Gstettner, Mathilde – Augen- und Schulärztin, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Staatsamt für Volksgesundheit, Frauen- und Friedensaktivistin
Autor: Walter Mentzel
Published online: 24.08.2023
Keywords: Mathilde Gstettner, Augenärztin, Schulärztin, Allgemeine Poliklinik, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Staatsamtes für Volksgesundheit, Ärztin, Medizingeschichte, Wien
Mathilde Gstettner wurde am 9. März 1869 als Tochter des technischen Assistenten und späteren Vorstand am k.k. Militär-Geographischen-Institut, Gustav Gstettner (1832-1905), und der Lehrerin Johanna Elisabeth, geborene Wegele, in Wien geboren.
Gstettner arbeitete seit spätestens 1892 zunächst als Unterlehrerin (die Ernennung erfolgte 1895)[1] an der Mädchen-Volksschule in Gaudenzdorf in Wien 6 und seit 1897 als Bürgerschul-Lehrerin[2] in der Stumpergasse (bis 1914).[3] 1898 wirkte sie durch ihre zur Verfügung gestellten Exponate an der Jubiläumsausstellung im Wiener Rotundengelände anlässlich des 50-Jahr-Regierungsjubiläums von Kaiser Franz Joseph I. mit. 1900 erhielt sie vom Wiener Stadtrat ein Reisestipendium zur Pariser Weltausstellung,[4] worüber sie 1901 in ihrem Referat „Über die Volksschulen in Paris“ vor dem Verein der Lehrerinnen und Erzieherinnen in Österreich berichtete.[5] Vor dem Ersten Weltkrieg war sie noch Präsidentin des Wiener Damen-Stenographen-Vereins „Gabelsberger“, Mitglied des Vereins der Lehrerinnen und Erzieherinnen Österreichs und des 1903 gegründeten Neuen Frauenklubs. 1906 schloss sie sich öffentlich dem Protest des Klubs gegen die diskriminierenden Äußerungen des Unterrichtsministeriums im Hinblick auf die Zulassung von Mädchen in Knaben-Mittelschulen in Brünn und die Ablehnung der Finanzierung des Studiums für Frauen an.[6]
Neben ihrer Lehrerinnentätigkeit begann sie an der Universität Wien mit dem Studium der Medizin, das sie am 23. Dezember 1905 mit ihrer Promotion abschloss. Danach ließ sie sich beurlauben und eröffnete in Wien 5, Margaretenstraße 97, eine Praxis für Augenkrankheiten und chirurgische Kosmetik, die sie später nach Wien 7, Neubaugasse 80 verlegte.[7] Bereits während ihres Studiums hatte sie 1904 am Physiologischen Institut in Wien „Über Farbenveränderungen der lebenden Iris bei Menschen und Wirbeltieren“ publiziert.
Wiener allgemeine Poliklinik
Zwischen 1912 und 1920 war sie als Assistentin an der Augenabteilung der Allgemeinen Poliklinik in Wien bei Prof. August Leopold von Reuss (1841-1924) tätig. Während dieser Zeit publizierte sie auch populärwissenschaftliche Artikel u.a. in der Zeitschrift „Die Frau und Mutter“, darunter „Etwas über die Kurzsichtigkeit“[8] oder „Zur Hygiene des Auges“[9].
Österreichischer Verein für Schulhygiene
Gstettner widmete sie schon vor dem Ersten Weltkrieg schulärztlichen Themen und gehörte der 1912 gegründeten und von Leo Burgerstein (1853-1928) geleiteten Gesellschaft für Schulhygiene als Mitglied an, wo sie von Beginn an auch die Funktion der Vereinssekretärin übernahm.[10] Sie erhielt rasch auf dem schulärztlichen Gebiet internationales Ansehen, ihre Arbeiten fanden in der Fachpresse eine positive Rezeption. 1915 hielt sie in der Gesellschaft für Schulhygiene einen Vortrag zur „Schulhygiene in Nordamerika“.[11] Im April 1913 nahm sie an einer von der Wiener Ärztekammer organisierten schulärztlichen Enquete[12] und im August 1913 als Vertreterin der Österreichischen Gesellschaft für Schulhygiene gemeinsam mit Hans Spitzy (1872-1956), Siegmund Exner (1846-1926), Franz Hamburger (1874-1954), Clemens von Pirquet (1874-1929) und Ernst Finger (1856-1939) am 4. internationalen Congress of School Medicine in Buffalo, New York teil. Hier referierte sie zum Thema Schulhygiene. Im selben Jahr publizierte sie noch „Noviform in der Augenheilkunde“.[13]
Vor dem Ersten Weltkrieg engagierte sich Gstettner in der Friedensbewegung, und arbeitete an den Vorbereitungen für die zwischen den 15. und 19. September 1914 geplante Weltfriedenstagung in Wien im Organisationssekretariat mit.[14]
Während des Ersten Weltkrieges erschienen von ihr im Jahr 1915 der Aufsatz „Versuche mit Linse, Glaskörper, Kammerwasser und Serum in bezug auf ihr Verhalten zu einigen anorganischen Alkalien und alkalisch-reagierenden Salzlösungen“,[15] ansonsten beschäftigte sie sich weiterhin auf dem schulärztlichen Gebiet, wie ihr 1917 erschienener Artikel „Einige Schularzteinrichtungen in Holland“[16] belegt.
Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Staatsamtes für Volksgesundheit in Wien und Schulärztin der Gemeinde Wien
Nach dem Krieg wurde Gstettner im Dezember 1918 im neu errichteten Staatsamt für Volksgesundheit neben Ernst Brezina (1874-1961), Siegfried Rosenfeld (1863-1933), Hans Spitzy und Ludwig Teleky (1872-1957) zur wissenschaftlichen Mitarbeiterin ernannt, sowie der Presseabteilung zugeteilt.[17] Hier widmete sie sich der Frage der Errichtung und Ausgestaltung schulärztlicher Einrichtungen und deren gesetzlicher Verankerung, aber auch der Organisation der Fortbildungsmaßnahmen von Mediziner:innen. Daneben war sie als Schulärztin der Gemeinde Wien tätig. 1919 publizierte sie „Ärztliche Fortbildungskurse“[18], „Über Schulärztekurse“, „Über Untersuchung der weiblichen Schuljugend“ sowie die Artikel „Skizze zu einem Schularztgesetz“ und „Hygienische Beratungsstellen“.[19] Nach der Errichtung des Bundesministeriums für soziale Verwaltung im Jahr 1920 und der damit einhergehenden Integration des früheren Staatsamtes zur Abteilung „Volksgesundheitsamt“, fand sie hier in der Abteilung 3 Verwendung. 1920 veröffentlichte sie im Rahmen ihrer neuen beruflichen Tätigkeit die Aufsätze „Einige Winke zur Errichtung von Freiluftschulen“[20], 1922 „Neue Skizze zu einem Schularztgesetz“[21] und im selben Jahr „Zur Errichtung von Schulkliniken und Schülerambulatorien“.[22] 1921 hielt sie im Rahmen einer Vortragsreihe des Vereins Freie Schule einen Vortrag über „Die Tätigkeit des Schularztes“.[23]
1923 schied sie aus dem Ministerium aus und führte ihre Praxis in Wien 7, Neubaugasse 80, als Augenfachärztin weiter, bzw. nahm sie wieder an der Allgemeinen Poliklinik in Wien ihre Arbeit auf. In den 1920er Jahren gehörte sie noch dem Ärztlichen Wirtschaftsverband „Praxisfreiheit“ an, in dessen Vorstand sie auch gewählt wurde.[24] Weiters war sie noch Mitglied des Leitungsgremiums in der 1919 gegründeten und nach Karl von Reichenbach (1788-1869) benannten „Gesellschaft Reichenbach“, zu deren Proponenten und Initiatoren Professor Moriz Benedikt (1835-1920) zählte. [25]
Mathilde Gstettner verstarb im März 1933 in Wien.
Quellen:
Taufbuch, Erzdiözese Wien. 6, Bezirk, St. Josef ob der Laimgrube, Buch 35, Folio 20, 1869, Gstettner Mathilde.
UAW, Rektorat, Med. Fakultät, Rigorosen- und Promotionsprotokolle, Sign. 196-0172, Gstettner Mathilde (Rigorosum Datum: 23.10.1905).
UAW, Rektorat, Med. Fakultät, Rigorosen- und Promotionsprotokolle, Sign. 190-0300, Gstettner Mathilde (Promotion Datum: 23.12.1905).
WStLA, 1.1.10.A1. 8512/1933, Totenbeschaubefund, Grabanweisung Gstettner Mathilde (März 1933)
Literatur:
Gstettner, Mathilde: Über Farbenveränderungen der lebenden Iris bei Menschen und Wirbeltieren. Aus dem Physiologischen Institut der Universität Wien. Sonderdruck aus: Archiv für die gesamte Physiologie. Bonn: Verlag von Martin Hager 1904.
[Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin/Separata Bibliothek]
Gstettner, Mathilde: Über Schulärztekurse. Sonderdruck aus: Wiener medizinische Wochenschrift. Wien: Verlag von Moritz Perles 1919.
[Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin/Separata Bibliothek]
Gstettner, Mathilde: Über Untersuchung der weiblichen Schuljugend. Sonderdruck aus: Wiener medizinische Wochenschrift. Wien: Verlag von Moritz Perles 1919.
[Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin/Separata Bibliothek]
Gstettner, Mathilde: Skizze zu einem Schularztgesetz. Sonderduck aus: Wiener medizinische Wochenschrift. Verlag von Moritz Perles 1919.
[Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin/Separata Bibliothek]
[1] Die Presse, 7.8.1895, S. 11.
[2] Neues Wiener Journal, 24.2.1897, S. 3.
[3] Wiener Kommunal-Kalender und städtisches Jahrbuch, Jh. 1893-1902.
[4] Neue Freie Presse, 28.6.1900, S. 6.
[5] Österreichische Lehrerinnen-Zeitung, 10.7.1901, S. 133-139.
[6] Der Bund. Zentralblatt des Bundes österreichischer Frauenvereine, H. 6, 1906, S. 7.
[7] Der Bund. Zentralblatt des Bundes österreichischer Frauenvereine, H. 3, 1910, S. 10
[8] Die Frau und Mutter, H. 4, 1913, S. 89-90.
[9] Die Frau und Mutter, H. 11, 1913, S. 313-315.
[10] Medizinische Klinik, Nr. 30, 1912, S. 1258.
[11] Wiener Zeitung, 17.9.1915, S. 10.
[12] Wiener medizinische Wochenschrift, Nr. 17, 1913, Sp. 1097.
[13] Wiener medizinische Wochenschrift, Nr. 23, 1913, Sp. 1418-1420.
[14] Die Friedenswarte, Nr. 6, 1914, S. 238.
[15] Wiener medizinische Wochenschrift, Nr. 30, 1915, Sp. 1149-1155; Nr. 32, 1915, Sp. 1210-1217; Nr. 34, 1915, Sp. 1415-1422.
[16] Das Österreichische Sanitätswesen, Nr. 9-26, 1917.
[17] Arbeiter Zeitung, 3.12.1918, S. 3.
[18] Wiener medizinische Wochenschrift, Nr. 21, 1919, Sp. 1052-1057.
[19] Wiener klinische Rundschau, Nr. 9/10, 1919, S. 51-52; Nr. 11/13, 1919, S. 64.
[20] Wiener klinische Rundschau, Nr. 31/32, 1921.
[21] Wiener medizinische Wochenschrift, Nr. 23, 1922, Sp. 1004-1008; Nr. 24, 1922, Sp. 1046-1050.
[22] Wiener medizinische Wochenschrift, Nr. 50, 1922, Sp. 2091-2098
[23] Neue Freie Presse, 18.3.1921, S. 7.
[24] Wiener medizinische Wochenschrift, Nr. 5, 1926, S. 178.
[25] Wiener klinische Rundschau, Nr. 42/43, 1919, S. 233.
Normdaten (Person): Gstettner, Mathilde: BBL: 41764; GND:1300259027;
VAN SWIETEN BLOG der Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien
BBL: 41764 (24. 08. 2023)
URL: https://ub.meduniwien.ac.at/blog/?p=41764
Letzte Aktualisierung: 2023 08 28