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Aus den medizinhistorischen Beständen der Ub MedUni Wien [199]: Hammerschlag, Ernst Rudolf – Internist am S. Canning-Childs-Spital in Wien und Psychiater in New York – NS-Verfolgter

Hammerschlag, Ernst Rudolf – Internist am S. Canning-Childs-Spital in Wien und Psychiater in New York – NS-Verfolgter

Text: Dr. Walter Mentzel

Ernst Rudolf Hammerschlag wurde am 13. Februar 1894 als Sohn des Mediziners Albert Hammerschlag und Leontine Hammerschlag in Wien geboren. Nach der Absolvierung der Matura am Josefstädter Oberrealgymnasium in Wien im Jahr 1912,[1] begann er mit dem Studium der Medizin, das er mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs unterbrechen musste. Im Frühjahr 1915 geriet er in Przemysl in russischen Kriegsgefangenschaft,[2] aus der er sich durch Flucht aus einem sibirischen Kriegsgefangenenlager entziehen konnte. Nach dem Krieg setzte er das Studium der Medizin an der Universität Wien fort und schloss es im Februar 1923 mit seiner Promotion ab. Danach arbeitete an der I. medizinischen Abteilung des Kaiser-Franz-Joseph-Spitals unter dem Vorstand Professor Josef Wiesel (1876-1928), wo er seine Facharztausbildung zum Internisten absolvierte, und eine Reihe wissenschaftlicher Arbeiten publizierte. Darunter den 1925 erschienenen Aufsatz „Ein Fall von wahrem Aneurysma des Ductus arteriosus Botalli“ und die 1926 im Wiener Archiv für innere Medizin veröffentlichte Arbeit „Über die konstitutionelle Disposition zum akuten Gelenkrheumatismus“. Daneben führte er in Wien bis 1938 eine private Arztpraxis.

Ab 1929 war er als Assistent an der I. medizinischen Abteilung des von der „Samuel Canning Childs Stiftung zur Erforschung und Behandlung innerer Krankheiten und des Krebses“ gegründeten und vom Direktor Adolf Edelmann (1885-1939) geführten S. Canning-Childs-Spital tätig.

Hammerschlag war Mitglied der Gesellschaft der Ärzte in Wien, seit 1931 Mitglied der Gesellschaft für innere Medizin, und gehörte der in Wien ansässigen Arbeitsgemeinschaft für gesundheitliche Volksbildung an, in deren Veranstaltungsreihen er in den 1930er Jahren regelmäßig Vorträge hielt.[3] 1936 trat er der Freimaurerloge B’nai Brith bei. Ernst Hammerschlag war Hausarzt von Sigmund Freund, mit dem schon sein Vater Albert und sein Großvater Samuel Hammerschlag eng befreundet waren. Im Jänner 1938 wurde noch sein Redebeitrag in der Sitzung der Gesellschaft für innere Medizin vom 27. Jänner 1938 im Bericht der Gesellschaft publiziert.[4]

New York, Southern District, U.S District Court Naturalization Records, 1824-1946.

Ernst Hammerschlag, der wegen seiner jüdischen Herkunft von den Nationalsozialisten verfolgt wurde, gelang am 27. Juni 1938 über Le Havre mit der SS Normandie die Flucht in die USA. Hier begann er an der New York School of Psychiatry mit dem Studium der Psychiatrie und arbeitete danach am Mount Sinai und Lenox Hill Hospital, sowie als außerordentlicher Professor an der New York School of Psychiatry. Er gehörte in New York bald zu den bekanntesten und prominentesten Psychiatern und Psychotherapeuten und publizierte daneben u.a. 1949 mit dem 1936 aus Österreich in die USA emigrierten Mediziner David Adlersberg (1897-1960) die Arbeit „Mechanism of the Postgastrectomy Syndrome“. In New York heiratete er die von den Nationalsozialisten aus Deutschland geflüchtete Margo Liebes, die lange Jahre Vorstandsmitglied der in New York ansässigen National Association of Women Artists war.

Hammerschlag verstarb am 29. Oktober 1973 in New York. Heute wird ein von der Familie Hammerschlag ins Leben gerufener Preis, der „Margo Harris Hammerschlag Biennial Award“, von der „The National Association of Women Artists“ (NAWA) vergeben.

Quellen:

Matriken der IKG Wien, Geburtsbuch 1893, Hammerschlag Ernst.

UAW, Med. Fakultät, Nationalien/Studienkataloge, 134-0768, Hammerschlag Ernst (Nationalien Datum: 1918/19).

UAW, Rektorat, Med. Fakultät, Rigorosen- und Promotionsprotokolle, 196-0255, Hammerschlag Ernst (Rigorosum Datum: 16.2.1923).

UAW, Rektorat, Med. Fakultät, Rigorosen- und Promotionsprotokolle, 192-1447, Hammerschlag Ernst (Promotion Datum: 20.2.1923).

New York Times, 1.11.1973, S. 46.

Matriken der IKH Wien, Geburts-Anzeige, Hammerschlag Ernst.

New York, New York Passenger and Crew Lists, 1909, 1925-1957, (NARA microfilm publication T715 – Washington, D.C.: National Archives and Records Administration, n.d.).

New York, Southern District, U.S District Court Naturalization Records, 1824-1946, Petitions for naturalization and petition evidence 1943 box 842, no. 458682-458850 (NARA microfilm publication M1972, Southern District of New York Petitions for Naturalization, 1897-1944. Records of District Courts of the United States, 1685 – 2009, RG 21. National Archives at New York).

United States Social Security Death Index, Ernst Hammerschlag, Oct. 1973 (U.S. Social Security Administration, Death Master File).

Literatur:

Hammerschlag, Ernst: Ein Fall von wahrem Aneurysma des Ductus arteriosus Botalli. Sonderdruck aus: Virchow´s Archiv für Pathologische Anatomie und Physiologie und für Klinische Medizin. Berlin: Verlag von Julius Springer 1925.

[Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin/Separata Bibliothek]

Keywords:

Ernst Hammerschlag, Innere Medizin, S. Canning-Childs-Spital, Psychiatrie, Sigmund Freud, NS-Verfolgung, Arzt, Medizingeschichte, Wien

[1] Jahresbericht über das k.k. Staatsgymnasium im VVVI. Bezirk Wiens. Josefstädter Obergymnasium, Schulnachricht, Schuljahr 1812/13, S. 19.

[2] Neue Freie Presse, 5.6.1915, S. 19.

[3] Neues Wiener Tagblatt (Tages-Ausgabe), 6.5.1936, S. 27.

[4] Wiener Archiv für innere Medizin. Mitteilungen der Gesellschaft für innere Medizin, Hauptteil Teil 1, Anhang, 1938, S. 15.

 Normdaten (Person) Hammerschlag, Ernst: BBL: 40189; GND: 1275316964

Bio-bibliografisches Lexikon (BBL)/Liste aller Beiträge der VS-Blog-Serie: Aus den medizinhistorischen Beständen der Ub MedUni Wien

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Aus den medizinhistorischen Beständen der Ub MedUni Wien [97]: Apt, Franz: Einige Worte über die psychiatrische Tätigkeit eines Truppenarztes, 1910.

Apt, Franz – Einige Worte über die psychiatrische Tätigkeit eines Truppenarztes (nach einem Vortrage im Wissenschaftlichen Vereine der Militärärzte der Garnison Przemyśl) Przemyśl: als Manuskript gedruckt 1910.

Text: Walter Mentzel

Im Jahr 1910 erschien im Selbstverlag das Manuskript des im Militärspital in Przemyśl in Galizien dienenden Militärarztes, Psychiaters und Schülers von Julius Wagner-Jauregg (1857-1940), Franz Apt. In dieser ihm seit 1909 als Vorlage bei seinen Vorträgen dienenden Arbeit, hatte Apt ein Konzept zur größtmöglichen Identifizierung unter Einbeziehung der Verwaltung und der Bevölkerung zur Erfassung geistig kranker Personen entwickelt, um deren gezielte Identifizierung und Aussondierung vor deren Einziehung in den Militärdienst zu erwirken.

Titelblatt mit Widmung: Apt: Einige Worte über die psychiatrische Tätigkeit […]. Przemyśl: 1910. Handschriftlich Widmung des Autors: „Herrn RA Dr. Albrecht/in Freundschaft überreicht/Dr. Apt“

Apt, Franz: Einige Worte über die psychiatrische Tätigkeit eines Truppenarztes (nach einem Vortrage im Wissenschaftlichen Vereine der Militärärzte der Garnison Przemyśl.) Przemyśl: als Manuskript gedruckt 1910.

Mit seiner Arbeit verfolgte er das Ziel, zunächst durch eine psychiatrische Schulung des Militärpersonals dieses in die Lage zu versetzen eine psychiatrisch-verwaltungstechnische Koordinierungsfunktion zu übernehmen, um danach durch die Einbeziehung der zivilen Verwaltungsebenen und der Polizeibehörden, diese mittels vorgedruckter Formulare bei der Erfassung, Ausforschung und Registrierung psychisch kranke und jene als „Kranke interniert gewesene Leute“ zu unterstützen. Zur Verwirklichung der vollständigen Erfassung von „geistig kranken“ Personen beabsichtigte er möglichst breite Teile der Gesellschaft, die bislang schon eine gesellschaftliche Kontrollfunktion wahrnahmen, wie „Irrenanstalten“, Lehrpersonal aber auch „vertrauenswürdige Personen“ wie „Nachbarn, Ärzte, Bürgermeister, Dorfschullehrer, Geistliche, Amtspersonen, Notare“ zur Erstellung von verschriftlichten Zeugnissen und Einschätzungen über Personen wie u.a. Schülern an Hilfsschulen in das Ausforschungssystem einzubeziehen und zur Anmeldepflicht anzuhalten. Diese Maßnahmen zielten darauf ab, eine weitestgehende Störung des Militärdienstes zu verhindern und einen reibungslosen Ablauf der Kriegsführung zu gewährleisten. Seine Vorstellungen entsprachen der in der Vorkriegszeit in Europa sich zunehmend durchsetzenden Ideen, der Unterordnung und der Militarisierung der zivilen Verwaltungen und des zivilen Lebens unter militärische Nützlichkeitserwägungen. Letztlich weist sein Konzept auf eine vollständige Identifizierung und Erfassung durch die Zuweisung der Beurteilungskompetenzen in psychiatrischen Fragen an die Zivilbehörden hin. Apt und seine Arbeit gerieten rasch in Vergessenheit, während sie noch vor dem Ersten Weltkrieg Interesse der französischen Armee fanden.

Franz Apt wurde am 21. Juni 1874 als Sohn eines Ministerialrates in Budapest geboren. Er studierte an der Medizinischen Fakultät der Universität Budapest, wo er am 25. Februar 1898 zum Doktor der gesamten Heilkunde promovierte. Während des Studiums trat er am 20. Jänner 1894 als einjährig Freiwilliger „auf eigene Kosten“ in das Infanterieregiment Nr. 86 der k.k. Armee ein und begann nach Absolvierung seines Studiums 1898 seine Karriere als Militärarzt im Probedienst im Garnisonsspital Nr. 17 in Budapest, wo er im Juni 1898 zum Oberarzt ernannt wurde. 1899 wechselte er zum (bosnisch-herzegowinischen[1]) Infanterieregiment Nr. 3 in Budapest. 1901 erfolgte hier seine Ernennung zum Regimentsarzt. Im selben Jahr begann er eine Ausbildung an der Klinik für Psychiatrie bei Professor Julius Wagner-Jauregg (1857-1940) in Wien, die ihn in den folgenden Jahren zur Leitung psychiatrischer Abteilungen in Militärspitälern befähigte. 1902 wurde er Mitglied des Vereins für Psychiatrie und Neurologie in Wien.[2] Nach Abschluss seiner Arbeit bei Wagner-Jauregg arbeitete er ab 1902 wieder als Militärarzt im Garnisonsspital Nr. 7 in Graz. 1905 wechselte er in das Garnisonsspital in Temeswar (heute: Timișoara/Rumänien) und 1906 zum Garnisonsspital Nr. 21 in Temeswar. Hier übte er an der Abteilung für psychiatrische Krankenfälle die Position des Chef- und Instruktionsarztes aus und war als Kommissionsmitglied der ambulanten Stationskommission und als Chefarzt der chirurgischen Abteilung zugeteilt. Danach war er ab 1907 im Garnisonspital Nr. 3 des 10. Armeekorps in Przemyśl und zuletzt von 1908 bis 1910 als Chefarzt der 5. Geistes-, Nerven- und Arrestanten-Abteilung und daneben an der 2. Augen- und Ohrenabteilung tätig. Seine Vorgesetzten bescheinigten ihm, dass sich unter seiner Führung die psychiatrische Abteilung in Przemyśl zu einer „Musterabteilung“ entwickelt hatte, nachdem er sie neu organisiert, moderne psychiatrische Ansätze eingeführt und vor allem eine stärkere Individualisierung der Krankenbehandlung hinsichtlich der Diagnostik in der Militärpsychiatrie eingeleitet hatte.

In Przemyśl heiratete er im Jahr 1908. 1909 und 1910 hielt er vor dem „Wissenschaftlichen Verein der Militärärzte der Garnison Przemyśl“ Vorträge mit Titel seines 1910 von ihm herausgegebenen Buches „Einige Worte über die psychiatrische Tätigkeit des Truppenarztes […]“.[3] Im Oktober 1910 nahm er am 4. internationalen Kongress zur Fürsorge für Geisteskranke in Berlin teil, wo er einen Vortrag über die „klinische Anamnese in der Militärpsychiatrie. Bedeutung und Beschaffung“ hielt.[4] Franz Apt, der vor seinem Tode vor weiteren Karrieresprüngen als Militärpsychiaters stand, verstarb am 12. Dezember 1910 in Przemyśl in Galizien (heute: Polen).

Auskunftsbogen aus dem Garnisonspital Nr. 3 in Przemyśl vor 1914. In: Apt: Einige Worte über die psychiatrische Tätigkeit […]. Przemyśl: 1910.

Beilage: Apt: Einige Worte über die psychiatrische Tätigkeit […]. Przemyśl: 1910.

Musteransuchen. In: Apt: Einige Worte über die psychiatrische Tätigkeit […]. Przemyśl: 1910.

Quellen:

Österreichisches Staatsarchiv. Kriegsarchiv. Qualifikationslisten. Franz Apt.

Der Militärarzt. Zeitschrift für das gesamte Sanitätswesen der Armeen (Beilage der Wiener

medizinischen Wochenschrift Nr. 8) 4. 17.2.1911. Sp. 56.

Der Militärarzt. 9. 13.5.1910. Sp. 135.

Literatur:

Derrien. Marie: Éliminer ou récupérer? L’armée française face aux fous du début du XXe siècle à la Grande Guerre. In: Le Mouvement Social 2015/4 (Nr. 253). S. 13-29.

Dieselbe: « La tête en capilotade » Les soldats de la Grande Guerre internés dans les hôpitaux

psychiatriques français (1914-1980). (Thèse pour l’obtention du doctorat d’histoire) Lyon 2015.

Literaturliste:

Apt, Franz: Einige Worte über die psychiatrische Tätigkeit des Truppenarztes. (Nach einem Vortrage im Wissenschaftlichen Vereine der Militärärzte der Garnison Przemyśl.) Przemyśl: als Manuskript gedruckt 1910.

[Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin/Neuburger Bibliothek, Sign.: 14722]

Keywords:

Franz Apt, Galizien, Julius Wagner-Jauregg, Militärarzt, Militärspital, Militärwesen, Przemyśl, Psychiatrie, Verwaltung, Arzt, Wien, Medizingeschichte

[1] Wiener Zeitung. 1.5.1901. S. 14; Allgemeine Wiener medizinische Zeitung. 7.5.1901. S. 216.

[2] Wiener klinische Wochenschrift. Nr. 7. 1902. S. 192.

[3] Der Militärarzt. Zeitschrift für das gesamte Sanitätswesen der Armeen (Beilage der Wiener medizinischen Wochenschrift Nr. 8). 4. 17.2.1911. Sp. 56; Der Militärarzt. 9. 13.5.1910. Sp. 135.

[4] Österreichisches Staatsarchiv. Kriegsarchiv. Qualifikationslisten. Franz Apt.

Normdaten (Person) Apt, Franz: BBL: 32630; GND: 1224625854;

Bio-bibliografisches Lexikon (BBL)/Liste aller Beiträge der VS-Blog-Serie: Aus den medizinhistorischen Beständen der Ub MedUni Wien

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Aus den medizinhistorischen Beständen der Ub MedUni Wien [32]: Krafft-Ebing, Richard von: Psychopathia sexualis. Eine klinisch-forensische Studie. Stuttgart: Verlag von Ferdinand Enke 1886.

Krafft-Ebing, Richard von: Psychopathia sexualis. Eine klinisch-forensische Studie. Stuttgart: Verlag von Ferdinand Enke 1886.

[Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin/NeuburgerBibliothek, Sign.: 48615]

http://search.obvsg.at/


Abb. 1    Richard von Krafft-Ebing

Richard von Krafft-Ebing (*14.08.1840 Mannheim, gest. 22.12.1902 Graz) war ein Psychiater, Neurologe und Rechtsmediziner. Er entstammte einer Beamtenfamilie aus dem Breisgau und studierte Medizin in Heidelberg, wo er 1863 sein Staatsexamen ablegte. Krafft-Ebing interessierte sich für Psychiatrie und kam unmittelbar nach seinem Studium mit den beiden damals vorherrschenden Richtungen des Faches in Berührung: zuerst mit der hirnanatomisch bestimmten Universitätspsychiatrie bei Wilhelm Griesinger (1817-1868), dessen Vorlesungen er in Zürich hörte; danach mit der deutschen Anstaltspsychiatrie, die er bei Christian Roller (1802-1878) in der Irrenanstalt Illenau kennenlernte. Seit dieser Zeit verband ihn auch eine lebenslange Freundschaft mit seinem Kollegen und späteren Leiter dieser Anstalt Heinrich Schüle (1840-1916). Von 1868 bis zum Beginn des Deutsch-Französischen Krieges (1870/71) – in dem er erst als Feldarzt, später als Lazarettarzt in einem Badischen Regiment diente – ließ er sich in Baden-Baden als privater Nervenarzt nieder.

1872 arbeitete Krafft-Ebing für ein Jahr an die Universität Straßburg, danach ging er an die Universität Graz, wo ihm – verbunden mit der Leitung der neu eingerichteten Landesirrenanstalt Feldhof – der Lehrstuhl für Psychiatrie übertragen wurde. 1880 wurde er hier zum Ordinarius ernannt und konnte die Leitung der Anstalt abgeben. Aus dieser Zeit stammen auch seine beiden bekannten Lehrbücher, die beide mehrmals aufgelegt, zu Standardwerken wurden und seine internationale Berühmtheit begründeten: Lehrbuch der gerichtlichen Pathologie (1875) und Lehrbuch der Psychiatrie (1879). „Die Psychiatrie im damaligen Zustand war für Krafft-Ebing eine beschreibende, nicht erklärende Wissenschaft und er verwies damit die anatomischen und physiologischen Herrschaftsansprüche in der Psychiatrie in die Grenzen. Die Klinik stand bei ihm im Zentrum, wenn auch unter dem Leitsatz: ,Das Irresein ist eine Hirnkrankheit‘. Aus diesem Geist heraus schuf er 1867 den Begriff ,Zwangsvorstellung‘ und führte 1870 den Begriff ,Dämmerzustand‘ in die Psychiatrie ein.“[1] 1886 erschien schließlich sein bis heute bekanntestes Werk: Psychopathia sexualis. Es wurde – auch noch nach seinem Tod – immer wieder erweitert und überarbeitet und bis 1924 insgesamt 17 Mal aufgelegt. Durch seine strenge empirische Methode bildete er damit für die nachkommende Forschergeneration der Sexualwissenschaftler um Magnus Hirschfeld (1868-1935) den Ausgangspunkt für ihre eigenen Forschungen und „nach [Julius] Wagner-Jauregg schuf er damit ‚mit wunderbarem Scharfsinne Ordnung‘“.[2] Er wurde mit diesem Werk zum Begründer der Sexualpathologie. Heute bekannte Begriffe wie Sadismus, Masochismus, Fetischismus gehen auf ihn zurück.


Abb. 2    Titelblatt: Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis. Stuttgart: 1886.

Richard von Krafft-Ebings Arbeiten hatten eine nicht unproblematische Bedeutung für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem damals kaum erforschten Feld der Homosexualität, auf das er durch die Schriften von Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895) gestoßen wurde. Homosexualität galt im 19. Jahrhundert in weiten Kreisen der Gesellschaft als ein Ausdruck einer unmoralischen Geisteshaltung und Lebensweise als Folge von sexueller Übersättigung, Verführung und/oder degenerierter Erbanalagen und wurde aus diesem Grund in weiten Teilen Europas auch strafrechtlich verfolgt (in Österreich bis 1971). Als bekannter Gerichtsarzt stellte Krafft-Ebing Homosexuelle als „erblich belastete Perverse“ dar, die für ihre angeborene Umkehrung des Sexualtriebes nicht verantwortlich sind, folglich auch nicht strafrechtlich zu verfolgen seien. In seiner Psychopathia sexualis definierte er Homosexualität als angeborene neuropsychopathische Störung – also als eine erbliche Nervenkrankheit. Diese Diagnose erlaubte es ihm, sich für eine vollkommene Straffreiheit der Homosexualität auszusprechen, zumal sie auch nicht ansteckend sei. Damit führte Krafft-Ebing die Pathologisierung der Homosexualität in die medizinische Wissenschaft ein, die bis weit in das 20. Jahrhundert hinein weitreichende Folgen zeitigte. Sie bildete die Grundlage für grausamste Zwangsmaßnahmen – bis hin zu Zwangssterilisationen (die bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgeführt wurden) – und führte zur zwangsweisen Psychiatrierung vieler Schwuler und Lesben.

1889 kam Richard von Krafft-Ebing als Nachfolger von Maximilian Leidesdorf (1816-1889) nach Wien an die I. Psychiatrische Klinik. 1892 trat er die Nachfolge von Theodor Meynert (1833-1892) als Professor der II. Psychiatrischen Klinik in Wien an, der er bis zu seiner Pensionierung 1902 vorstand. Richard von Krafft-Ebing starb nur wenige Monate nach seiner Pensionierung, nachdem er sich wieder nach Graz zurückgezogen hatte, am 22.12.1902.

Quellen:

Ammerer, Heinrich: Am Anfang war die Perversion. Richard von Krafft-Ebing, Psychiater und Pionier der modernen Sexualkunde. Wien, Graz und Klagenfurt: Verl.-Gruppe Styria 2011.

Sablik, Karl: Richard von Krafft-Ebing (1840-1902). In: Arzt, Presse, Medizin. (33) 1978. S. 3-5.

Wagner-Jauregg, Julius: Richard v. Krafft-Ebing. In: Wiener medizinische Wochenschrift. (58/42) 1908. Sp. 2305-2311.

[1] Sablik, Karl: Richard von Krafft-Ebing (1840-1902). In: Arzt, Presse, Medizin. (33) 1978. S. 4.

[2] Sablik, Karl: Richard von Krafft-Ebing (1840-1902). In: Arzt, Presse, Medizin. (33) 1978. S. 5.

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Aus den medizinhistorischen Beständen der Ub MedUni Wien [13]: Bruno Görgen und die Privat-Heilanstalt für „Gemüthskranke“ (Wien 1820) und die Anfänge der Bibliothek des Neurologischen Institutes – „Obersteiner Bibliothek“

Bruno Görgen und die Privat-Heilanstalt für „Gemüthskranke“ (Wien 1820) und die Anfänge der Bibliothek des Neurologischen Institutes – „Obersteiner Bibliothek“

Text: Dr. Walter Mentzel

Im Jahr 1820 erschien bei Franz Wimmer in Wien eine zweisprachige (deutsch-französische) Publikation des in Wien lebenden und praktizierenden Arztes Bruno Görgen unter dem Titel: Privat-Heilanstalt für Gemüthskranke. Wien: Wimmer 1820. [auch auf franz]. Darin beschreibt er die von ihm forcierten modernen und humanistisch geprägten Methoden und Arbeitsweisen in seiner von ihm ein Jahr zuvor 1819 eröffneten und geleiteten „Privat-Heilanstalt für Gemüthskranke“. Diese Arbeit befindet sich im Bestand der Josephinischen Bibliothek an der Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin.

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Görgen, Bruno: Privat-Heilanstalt für Gemüthskranke. Wien: Wimmer 1820.

Bruno Görgen wurde am 24.8.1777 in Trier als Sohn eines Architekten geboren und war mit Gertrude Görgen verheiratet. Er absolvierte an der Universität in Wien ein Medizinstudium, das er 1799 mit seiner Promotion abschloss. Danach arbeitete er zwischen 1805 und 1808 als Mitglied der Medizinischen Fakultät als Primararzt und „Irrenarzt“ am Allgemeinen Krankenhaus in Wien im sogenannten „Narrenturm“. Hier entwickelte er sich zum Kritiker der von Inhumanität und durch Exklusion gekennzeichneten Verhältnisse psychiatrischer Anstalten. Seine Vorbilder waren damals nach humanen Grundsätzen und reformorientierten Anstalten und Behandlungsmethoden von Philippe Pinel (1745-1826) in Paris und jene in Großbritannien.

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Obersteiner, Heinrich: Bruno Görgen. In: Deutsche Irrenärzte. Einzelbilder ihres Lebens und Wirkens. Hrsg. Kirchhoff Theodor. Band 1. Berlin: Springer 1921. S. 104.

1813 bot sich ihm die Gelegenheit Pläne und Gutachten für eine, seinen Reformvorstellungen gerecht werdenden modernen psychiatrischen Anstalt, für die Hofkanzlei zu erstellen. Im selben Jahr erhielt er die Konzession zu Errichtung einer solchen, scheiterte jedoch zunächst an deren Verwirklichung wegen einer entsprechenden Lokalität. Erst 1819 eröffnete er, nachdem er in Gumpendorf, einer damals vor Wien gelegenen Vorstadt, im ehemaligen Mollardschlössel (Palais Windischgrätz; heute: Gumpendorfer Straße 104) einen geeigneten Platz gefunden hatte, seine Anstalt und nahm im Juli 1819 die ersten Patienten auf.

Hier praktizierte und übte er frei von Zwangs- und Erniedrigungsmaßnahmen, ohne Ketten und Gurte auch neue Behandlungsmethoden und setzte vor allem auf das Prinzip der Gewährung größtmöglicher Bewegungsfreiheit seiner Patienten. Er wandte verschiedenen Arten der Beschäftigungstherapien wie Werkstätten an, setzte vor allem Musik[1] aber auch Sport als eine Therapiemöglichkeit ein und versuchte insgesamt bei Betreuung und Therapie den Anlagen und Bedürfnissen der Patienten entgegen zu kommen und auf sie abzustimmen. Dementsprechend anspruchsvoll war das Anforderungsprofil und streng die Auswahlkriterien bei der Rekrutierung seines Pflegepersonals, das ein hohes Bildungsniveau samt musischer Begabungen (Musik- und Sprachkenntnisse)[2] vorweisen musste und als Freund und Gesellschafter die Patienten begleiten sollte.

Ebenso zeichnete sich seine Anstalt durch einen hohen Personalaufwand (100 Patienten zu 70, bis 80 Pfleger und Wärter: 1847 betrug das Verhältnis 25 Patienten zu 20 Pfleger) aus. Er setzte sich aber gleichzeitig zum Ziel eine Anstalt ohne Wärterpersonal zu kreieren. Seine Anstalt galt in den 1830er Jahren im deutschsprachigen Raum als einzigartig (Medizinisch-chirurgische Zeitung. 5.12.1831. S. 9). Diese Anstalt, deren Patienten sich vor allem aus dem zahlungskräftigen Publikum des Hochadels und des Großbürgertums der österreichisch-ungarischen Monarchie rekrutierten, freute sich in diesen Kreisen zunehmender Beliebtheit. Ab 1821 bot er auch Patienten mit einem geringeren Einkommen Platz in seiner Anstalt an.

Auf der Suche nach einem besseren Standort, der seinen Vorstellungen einer Betreuung gerecht werden und vor allem seinem Anspruch nach einer offenen, ruhigen, von einer Parkanlage umgebenen Anstalt genügen sollte, fand er diesen in Ober-Döbling bei Wien. Die neue Anstalt wurde nach umfangreichen Umbauarbeiten, mit denen 1829 begonnen wurde, und der Einholung der Genehmigung der Landesregierung[3] 1831 bezogen und bestand als sogenannte „Döblinger Privatanstalt“ bis zum Jahr 1917. Sie galt viele Jahre im deutschsprachigen Raum als modernste Anstalt.[4] 1876 erschien von den späteren Anstaltsleitern ein von Heinrich Obersteiner jun. (1847-1922) und Maximilian Leidesdorf (1818-1889) die Schrift „Die Privatheilanstalt für Gemüths- und Nervenkranke zu Ober-Döbling bei Wien seit ihrer Gründung 1819 nebst einen Berichts über ihre Leistungen in der fünfzehnjährigen Periode vom 1. Juli 1860 bis 30. Juni 1875. Wien: Czermak 1876“, die mit einer Reihe von Plänen und historischen Ansichten versehen ist.

Die Privatheilanstalt für Gemüths- und Nervenkranke zu Ober-Döbling bei Wien seit ihrer Gründung 1819 nebst einen Berichts über ihre Leistungen in der fünfzehnjährigen Periode vom 1. Juli 1860 bis 30. Juni 1875. Wien: Czermak 1876.

bild_04_weblog-13_30023_02Die Privatheilanstalt für Gemüths- und Nervenkranke zu Ober-Döbling bei Wien seit ihrer Gründung 1819 nebst einen Berichts über ihre Leistungen in der fünfzehnjährigen Periode vom 1. Juli 1860 bis 30. Juni 1875. Wien: Czermak 1876.

Görgen verstarb am 29. Mai 1842 in Ober-Döbling Nr. 163.

Nach seinem Tod übernahm sein Sohn, der Mediziner Gustav Görgen (1814-1860), der selbst zuvor im Ausland psychiatrische Anstalten studiert hatte, bis 1859/1860 die Leitung, danach folgten ihm als Eigentümer Maximilian Leidesdorf und Heinrich Obersteiner sen. (1820–1891) und ab 1872 Heinrich Obersteiner jun. nach. Damit begann auch die Erweiterung der heutigen „Obersteiner-Bibliothek“, die heute an ihrem Standort an der Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin auch über die ersten Entwicklungen der modernen Psychiatrie Aufschluss gibt und in der Büchersammlung von Bruno Görgen ihren Ursprung hat. Heinrich Obersteiner jun. verfasste 1921 eine kurze biografische Skizze zu Bruno Görgen.

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Quellen:

UAW, Rektorat, Med. Fakultät, Rigorosenbände des Dekanats, Doktoren der Medizin 1752-1821, Med. 9,5-256 (Promotion 27.12.1799), Görgen Bruno.

UAW, Rektorat, Rigorosen- und Promotionsprotokoll der Medizinischen Fakultät, 1840-1854, Sign. 176-230, Görgen Gustav.

Matriken der Erzdiözese Wien, Sterbebuch, Sterberegister, Sign. 03-02, Bez. 19, Döbling, Folio 64, Görgen Bruno.

Wiener Stadt- und Landesarchiv, Bestand 2.9.4.3. – Krankenhaus Obersteinergasse 1824-1982.

Österreichischer Beobachter. 11.2.1821. S. 4.

Englisch, Franz: Die Döblinger Privatirrenanstalt. Ein Beitrag zur Geschichte der Wiener Pflegeanstalten für Geisteskranke. In: Wiener Geschichtsblätter 1969. Nr. 1.

Skopec, Manfred: Bruno Görgen (1877-1842). In: Straßennamen. Wien 1978 (= Arzt, Presse, Medizin Nr. 11. 11./16. März 1978).

Literaturliste:

Görgen, Bruno: Privat-Heilanstalt für Gemüthskranke = Etablissement privé à Vienne pour la Reception des Aliénés. Wien: Bey Franz Wimmer 1820.

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[Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin/Josephinische Bibliothek, Sign.: JB-4562]

Obersteiner, Heinrich jun. und Maximilian Leidesdorf: Die Privatheilanstalt für Gemüths- und Nervenkranke zu Ober-Döbling bei Wien seit ihrer Gründung 1819 nebst einen Berichts über ihre Leistungen in der fünfzehnjährigen Periode vom 1. Juli 1860 bis 30. Juni 1875. Wien: Czermak 1876.

[Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin/Neuburger Bibliothek, Sign.: 30023]

Obersteiner, Heinrich jun.: Bruno Görgen1777-1842. Sonderabdruck aus: Deutsche Irrenärzte. Berlin: Springer 1921.

[Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin/Neuburger Bibliothek, Sign.: 5196]

Keywords:

Bruno Görgen, Döbling, Gumpendorf, Gustav Görgen, Heinrich Obersteiner, Narrenturm, Psychiatrische Heilanstalt, Wien, Arzt, Medizingeschichte, Medizinische Bibliothek, Wiener Ärztebibliothek

[1] Allgemeine musikalische Zeitung. 22.9.1830. S. 611-612.

[2] Wiener Zeitung. 24.6.1824. S. 1016.

[3] Wiener Zeitung. 10.5.1832. S. 11.

[4] Medizinisch-chirurgische Zeitung. 5.12.1831. S. 330.

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