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Aus den medizinhistorischen Beständen der Ub MedUni Wien [329]: Lehndorff-Stauber, Alice – Dermatologin, Ärztin bei der Genossenschaftskrankenkasse Wien, Leiterin des Ambulatoriums für Psychotherapie am Ersten Wiener Kinderkranken-Institut, NS-Verfolgte

Autor: Dr. Walter Mentzel

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Keywords: Dermatologin, Erste Wiener Kinderkranken-Institut, Ambulatorium für Psychotherapie, Medizingeschichte, Verein für Individualpsychologie, Wien, NS-Verfolgte

Alice Stauber wurde am 29. August 1881 als Tochter des Arztes Adalbert (Bela) Stauber (1847-1909) und Johanna (1856-1930), geborene Kohn, in Wien geboren. Seit 1912 war sie mit dem Kinderarzt Heinrich Alfred Lehndorff (Löwy) (1877-1965) verheiratet, mit dem sie zwei Kinder hatte.

Stauber besuchte das Mädchen-Lyceum des Wiener Frauen-Erwerb-Vereines[1] und begann im Wintersemester 1902/03 an der Universität Wien mit den Studium der Medizin, das sie am 13. Dezember 1907 mit der Promotion abschloss. Ihre erste Publikation veröffentlichte sie 1906 am Physiologischen Institut der Universität Wien „Über das embryonale Auftreten diastalischer Fermente“. Nach dem Studium führte sie eine Arztpraxis in Wien 3, Rudolfsgasse 25, und arbeitete als Assistenzärztin am Rudolf-Spital, wo sie ihre Fachausbildung für Dermatologie erhielt und 1910 die Arbeit „Zur Frage des Eiweißabbaues im menschlichen Darme“ veröffentlichte. Danach eröffnete sie eine Ordination für Hautkrankheiten bei Frauen in Wien 1, Rathausstraße 8, und arbeitete daneben als Ärztin der Genossenschaftskrankenkassen Wiens und Niederösterreichs.

Volksbildung

Alice Lehndorff-Stauber war regelmäßig in der Wiener Volksbildung als Referentin tätig. Ab dem Herbst 1914 hielt sie Lichtbildvorträge zu Schutzvorkehrungen gegen Kriegsseuchen,[2] ab 1915 zu „Krieg und Geschlechtskrankheiten“,[3] im Jahr 1918 erhielt sie dafür das Ehrenzeichen vom Roten Kreuz mit der Kriegsdekoration für besondere Verdienste um die militärische Sanitätspflege im Krieg.[4] Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sie ihre Vortragsreihen zu medizinischen Themen in populärwissenschaftlicher Form in den Wiener Volksbildungsinstitutionen wie der Wiener Urania oder der Vereinigung der arbeitenden Frauen fort. Ihre thematischen Schwerpunkte waren dabei ab Mitte der 1920er Jahre Mutterschutz und Kinderpflege sowie Körperpflege und Hygiene.

1920 beschäftigte sie sich an der Kinder-Klinik im Allgemeinen Krankenhaus bei Clemens Pirquet (1874-1929) mit der Morphium-Allergie der Haut.[5]

Verein für Individualpsychologie

Ab spätestens 1930 war sie im Verein für Individualpsychologie u.a. als Vorstandsmitglied tätig. Hier leitete sie von 1932 bis 1933 mit Matha Holub (1887-1942) die Arbeitsgemeinschaft „Einführung in die Individualpsychologie durch Übungen und Interpretationen“ und hielt Vorträge, darunter 1933 „Das äußere der Frau und ihr Charakter“,[6] 1934 „Wenn wir altern“,[7] 1935 „Die nervöse Frau“[8] 1936 „Berufswahl der Frau“.[9]

Erstes Öffentliche Kinder-Kranken-Institut

Seit spätestens 1924 arbeitete sie in dem am Ersten Wiener Kinderkranken-Institut eingerichteten Ambulatorium für Psychotherapie in Wien 1, Kleeblattgasse, das sie gemeinsam mit Erwin O. Krausz (1887-1968) und später bis 1935 mit dem Vorstandsmitglied des Vereins für Individualpsychologie, Luise (Luna) Reich (1891-1967), leitete.

New York Petitions for Naturalization, 1897-1944. Records of District Courts of the United States, 1685-2009, RG 21. National Archives at New York.

Alice Lehndorff-Stauber, ihr Ehemann und ihre Kinder waren jüdischer Herkunft und nach dem „Anschluss“ im März 1938 der Verfolgung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt. Ihnen gelang die Flucht nach England, wo Alice Lehndorff-Stauber nach Kriegsausbruch interniert wurde. Im Dezember 1939 emigrierten sie und ihre Familie mit der SS Georgic von Liverpool in die USA, wo sie im Jänner 1940 in New York ankamen. Sie arbeitete in New York als Social Service Auxiliary am Mount Sinai Hospital.[10] Lehndorff-Stauber verstarb am 22. Juni 1960 in New Rochelle, Westchester, New York.

Quellen:

Matriken der IKG Wien, Geburtsbuch, 1881, Stauber Alice.

Trauungsbuch, Wien. Kirchliche Heiratsurkunden, 1912, Österreich Evangelisch-Lutherische Kirchenbücher 1783-1991, Heinrich Lehndorf and Alice Stauber (5.5.1912).

UAW, Med. Fakultät, Nationalien/Studienkataloge, Sign. 134-0587, Stauber Alice (Nationalien Datum 1902/03).

UAW, Rektorat, Med. Fakultät, Rigorosen- und Promotionsprotokolle, Sign. 196-0795, Stauber Alice (Rigorosum Datum 6.12.1907).

UAW, Rektorat, Med. Fakultät, Rigorosen- und Promotionsprotokolle, Sign. 190-0669, Stauber Alice (Promotion Datum 13.12.1907).

Internees at Liberty in the UK, Home Office: Aliens Department, Internees Index, 1939-1947 Prisoners of War, Alice Lehndorff, 1939-1942.

United Kingdom, Outgoing Passenger Lists, 1890-1960, Alice Lehndorff, 23 Dec 1939.

New York, New York Passenger and Crew Lists, 1925-1958, Lehndorff, 1939.

New York Petitions for Naturalization, 1897-1944. Records of District Courts of the United States, 1685-2009, RG 21. National Archives at New York.

New York, State Health Department, Genealogical Research Death Index, 1957-1963, 22 Jun 1960.

Alice Lehndorff-Stauber: AlfredAdler.at.

Literatur:

Lehndorff-Stauber, Alice: Über das embryonale Auftreten diastalischer Fermente. Aus dem physiologischen Institut der Universität Wien. Sonderdruck aus: Archiv für die gesamte Physiologie. Altenburg: Pierer’sche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel & Co. 1906.

[Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin/Separata Bibliothek]

Lehndorff-Stauber, Alice: Zur Frage des Eiweißabbaues im menschlichen Darme. Aus dem pathologischen Laboratorium der k.k. Krankenanstalt „Rudolf-Stiftung“, Wien. Sonderdruck aus: Biochemische Zeitschrift. Leipzig: Druck von Gustav Brandstetter 1910.

[Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin/Separata Bibliothek]

[1] Siebzehnter Jahresbericht Mädchen-Lyceum des Wiener Frauen-Erwerb-Vereines, Wien 1896, S. 35.

[2] Arbeiter Zeitung, 14.10.1914, S. 7.

[3] Arbeiter Zeitung, 21.10.1915, S. 8.

[4] Wiener medizinische Wochenschrift, Nr. 15, 1918, Sp. 678.

[5] Wiener klinische Wochenschrift, Nr. 47, 1920, S. 1024.

[6] Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie 1933: Band 11, S. 14.

[7] Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie 1934: Band 12, S. 61

[8] Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie 1935: Band 13, S. 62

[9] Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie 1936: Band 14, S. 62

[10] Annual report by Mount Sinai Hospital (New York, N.Y.), 1948, S. 179.

Normdaten (Person):  Lehndorff-Stauber, Alice: BBL: ; GND:

VAN SWIETEN BLOG der Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien
BBL:  47044 (26.05.2025)
URL: https://ub.meduniwien.ac.at/blog/?p=47044

Letzte Aktualisierung: 2025.05.26

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Zum 150. Geburtstag von Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie. 1912.

Aus den medizinhistorischen Beständen der Ub MedUni Wien [110]:

Zum 150. Geburtstag von:

Adler, Alfred: Über den nervösen Charakter. Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie. Wiesbaden: Verlag von J.F. Bergmann 1912.

[Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin/Neuburger Bibliothek, Sign.: 56172]

Text: Harald Albrecht, BA

Abb. 1     Alfred Adler.

Alfred Alder (07.02.1870 Wien, gest. 28.05.1937 Aberdeen/Schottland), dessen Geburtstag sich im Februar 2020 zum 150. Mal jährte, war ein österreichischer Arzt und Psychotherapeut jüdischer Herkunft. Er gilt als Begründer der Individualpsychologie.

Nach dem Besuch des Hernalser Gymnasiums in Wien, wo er 1888 maturierte, begann er sein Studium an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien, das er mit seiner Promotion 1895 abschloss. Noch während des Studiums lernte er seine spätere Frau Raissa Epstein (1872-1962), eine russische Studentin, in einer sozialistischen StudentInnengruppe kennen. Die Frauenrechtlerin, die später unter anderen mit Leo Trotzki (1879-1940) aber auch mit Julius Tandler (1869-1936) zusammenarbeiten sollte, und der junge Arzt heirateten 1897 in Russland. Adler arbeitete zunächst als unbesoldeter Hilfsarzt in der Wiener Allgemeinen Poliklinik (Ophthalmologie, Innere Medizin und Neurologie) und begann schon frühzeitig mit eigenen psychologischen Studien. Daneben eröffnete er eine Praxis als Allgemeinmediziner, zuerst im neunten, dann im zweiten Wiener Gemeindebezirk in ärmlichen Gegenden, was ihn in seinen sozialmedizinischen Ansichten stark prägte.

1904 publizierte er die Monografie: Der Arzt als Erzieher. „1907 folgte seine richtungsweisende Monographie, Studie über die Minderwertigkeit von Organen‘. Seit 1902 hatte sich A[dler, Anm.] dem Kreis um Sigmund Freud [(1856-1939), Anm.] angeschlossen, ohne allerdings die von diesem entwickelte Psychoanalyse voll zu übernehmen. Aus diesem Grund kam es 1911 schließlich zum Bruch zwischen Freud und A[dler, Anm.]. In der 1912 vollendeten Studie ,Über den nervösen Charakter‘ legte A[dler, Anm.] die Grundzüge der von ihm begründeten Individualpsychologie fest.“[1]

Abb. 2    Titelblatt: Adler: Über den nervösen Charakter. […] Wiesbaden: 1912.

Mit diesem Buch schaffte die Individualpsychologie den Durchbruch in der Fachwelt als Alternative zur Psychoanalyse. 1912/13 gründete er den Verein für Individualpsychologie und 1914 wurde die (Internationale) Zeitschrift für Individualpsychologie gegründet. „In den Mittelpunkt seiner neuen psychologischen Lehre stelle A[dler, Anm.] das Streben des Gesamtindividuums nach Macht und Ansehen innerhalb eines sozialen Gefüges. Hierin liegt der maßgebliche Unterschied zur psychoanalytischen Schule Freunds, die der Sexualität die zentrale Rolle im menschlichen Triebleben einräumte. Als Ursache für die Entwicklung von neurotischen Verhaltensmustern sah A[dler, Anm.] das Streben des Menschen an, persönlich erlebte Minderwertigkeit – sei sie nun auf der Basis sozialer Konflikte, sei sie durch organisch-körperliche Beeinträchtigung entstanden – zu kompensieren.“[2]

Die Zwischenkriegszeit war eine Blütezeit der Individualpsychologie. Im Rahmen der Wiener Schulreform konnten Adler und seine Mitarbeiter rund 30 Erziehungsberatungsstellen in Wien eröffnen. Die „Elternschulung“ wurde als „Neuroseprophylaxe“ verstanden und es entstanden auch psychoanalytisch orientierte Kindergärten für Arbeiterkinder. 1920 wurde Adler Direktor der ersten Klinik für Kinderpsychologie in Wien und Dozent am Pädagogium der Stadt Wien. Er wollte eine lebensnahe Psychologie schaffen, die es ermöglicht, seine Mitmenschen aus deren individuellen Lebensgeschichte heraus zu verstehen.

Ab 1926 besuchte Alfred Adler häufig die USA, wo seine optimistische Lehre vom Menschen als sozialem Wesen äußerst populär wurde. Schon in den frühen 1930er Jahren zählte er zu den bekanntesten Psychologen der Welt. Angesichts der zusehends bedrohlicheren politischen Lage in Europa emigrierte er 1934 in die USA. Er hatte dort Gastprofessuren an der Columbia University und am Long Island College inne. Alfred Adler verstarb auf einer Vortragsreiste in Aberdeen/Schottland am 28. Mai 1937.

Quellen:

Hannich, Hans-Joachim: Individualpsychologie nach Alfred Adler. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2018.

Alfred Adler – wie wir ihn kannten. Hrsg.: Gerald Mackenthum. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015.

Adler, Alexandra: Mein Vater Alfred Adler. In: Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1930-1940. Teilband 1. Hrsg.: Friedrich Stadler. (=Emigration – Exil – Kontinuität. Schriften zur zeitgeschichtlichen Kultur- und Wissenschaftsforschung/2) Münster: LIT Verlag 2004. S. 288-292.

Adler, Alfred, Mediziner, Psychologe, *7.2.1870 Penzing (heute zu Wien), +28.5.1937 Aberdeen. In: Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner. Hrsg. von Dietrich von Engelhardt. Bd. 1. A-Q. München: K.G. Saur 2002. S. 4-5.

Adler, Alfred, Psychiater und Neurologe. In: Österreichisches biographisches Lexikon 1815-1950. I. Band (A-Glä). Hrsg.: Österreichische Akademie der Wissenschaften. Graz, Köln: Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger 1957. S. 6.

[1] Adler, Alfred, Mediziner, Psychologe, *7.2.1870 Penzing (heute zu Wien), +28.5.1937 Aberdeen. In: Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner. Hrsg. von Dietrich von Engelhardt. Bd. 1. A-Q. München: K.G. Saur 2002. S. 4.

[2] Adler, Alfred, Mediziner, Psychologe, *7.2.1870 Penzing (heute zu Wien), +28.5.1937 Aberdeen. In: Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner. Hrsg. von Dietrich von Engelhardt. Bd. 1. A-Q. München: K.G. Saur 2002. S. 4.

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