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Aus den medizinhistorischen Beständen der Ub MedUni Wien [72]: Siegemund, Justine: Die Königl. Preußische und Chur-Brandenb. Hof-Wehe-Mutter,…gebohrner Diettrichin, von Ronnstock aus Schlesien, im Jaurischen Fürstenthum gelegen. Berlin: 1756.

Siegemund, Justine: Die Königl. Preußische und Chur-Brandenb. Hof-Wehe-Mutter, Das ist: Ein höchst nöthiger Unterricht von schweren und unrecht-stehenden Geburthen, In einem Gespräch vorgestellet, Wie nehmlich, durch Göttlichen Beystand, eine wohlunterrichtete Wehe-Mutter mit Verstand und geschickter Hand dergleichen verhüten, oder wanns Noth ist, das Kind wenden könne; Durch vieler Jahre Uebung selbst erfahren und wahr befunden: Nun aber Gott zu Ehren und dem Menschen zu Nutz, Auf gnädigst „und inständiges Verlangen Durchlauchtigst“ und vieler hohen Standes-Personen verbessert, mit einem Anhange heilsamer Artzney-Mittel, und mit denen dißfalls erregten Controvers-Schriften vermehret, Nebst doppelter Vorrede, Kupffern und nöthigem Register zum Druck befördert von Justinen Siegemundin, gebohrner Diettrichin, von Ronnstock aus Schlesien, im Jaurischen Fürstenthum gelegen. Berlin: zu finden bey Christian Friedrich Voß 1756.

[Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin/Josephinische Bibliothek, Sign.: JB6619]

http://webapp.uibk.ac.at/alo/cat/card.jsp?id=6182485&pos=0&phys=

Text: Harald Albrecht, BA

Abb. 1    Titelblatt: Siegemund: Die Königl. Preußische und Chur-Brandenb. Hof-Wehe-Mutter. Berlin: 1756.

Justine Siegemund, geborene Di(e)t(t)(e)rich (*26.12.1636 Jauer/Jawor, Niederschlesien, heute: Polen, gest. 10.11.1705 Berlin) stammte aus einer bildungsbürgerlichen Familie in Rohnstock/Roztoka (Niederschlesien, heute: Polen); ihr Vater war lutherischer Geistlicher. Justines – innerhalb der Familie – erworbene Bildungsgrad war für eine bürgerliche Frau im siebzehnten Jahrhundert äußerst ungewöhnlich. Etwa zwei Jahre nach ihrer 1655 erfolgten Hochzeit mit dem Rentschreiber [Verwaltungsbeamten, Anm.] Christian Siegemund wurde sie fälschlicher Weise für Schwanger gehalten und von verschiedenen Hebammen tagelang zur Geburt gedrängt. Diese traumatische Erfahrung veranlasste sie sich intensiv mit der Geburtshilfe zu befassen. Einerseits eignete sie sich ihr Wissen autodidaktisch durch die Lektüre geburtshilflicher Bücher an, andererseits durch Austausch mit verschiedenen Wehemüttern – „Hebammentätigkeit war noch nicht professionalisiert, basierte im Wesentlichen auf traditionellen Wissen gebärender und Geburtshilfe leistender Frauen“.[1] Justine Siegemund, die durch die gehobene Stellung ihres Ehemannes nicht auf Honorare angewiesen war, konnte sich so in den folgenden zwölf Jahren beträchtliches Wissen und Erfahrung auf diesem Feld aufbauen und wurde häufiger zu schweren Geburten gerufen.

Abb. 2    Autorinnenportrait: Siegemund: Die Königl. Preußische […] Hof-Wehe-Mutter. Berlin: 1756.

1670 wurde Siegemund auf Betreiben eines Arztes zur Stadt-Wehemutter in Liegnitz/Legnice (Niederschlesien, heute: Polen) bestellt. „Etwa zwei Jahre nach ihrem Amtsantritt rettete sie der von den Ärzten erfolglos behandelten Luise von Anhalt-Dessau (1631-1680), die nach dem Tod ihres Ehemanns, Herzog Christians von Liegnitz-Brieg-Wohlau (1618-1672), die Regentschaft führte, durch die Entfernung eines Gebärmuttergewächses das Leben. Bis zum Tod der Herzogin genoss die Hebamme daraufhin Unterhalt an deren Hof, aufgrund ihrer Freistellung und ihres Rufs wurde sie nicht nur innerhalb Schlesiens, sondern auch aus Sachsen angefordert. Sie stand jedoch bis 1678 […] immer wieder auch den Liegnitzer Schwangeren und Gebärenden zur Verfügung, allerdings eben nicht mit der für Stadthebammen gewöhnlich geforderten Ausschließlichkeit.“[2] Trotz ihrer geschützten Stellung musste sich Siegemund immer wieder gegen Anfeindungen ihrer männlichen Kollegen zur Wehr setzen. Ähnlich wie später ihre Kolleginnen in Frankreich, Angélique Marguerite Le Boursier Du Coudray (1712-1794) und Elizabeth Nihell (1723-1776) in England, wurde versucht ihre Expertise zu marginalisieren. Dahinter stand ein zusehends eintretender Verdrängungsprozess zum Nachteil der Hebammen, da das lukrative Feld der Geburtshilfe immer stärker in den Fokus der männlichen Ärzte rückte. „Im September des Jahres 1680 reichte der öffentlich angestellte Liegnitzer Stadtarzt Dr Martin Kerger (1622-1691) auf dem Rathaus ein Memorial ein. Darin bezichtigte er die Hebamme Justina Siegemund gewalttätiger geburtshilflicher Praktiken. Insbesondere warf er ihr vor, Geburten aus Eigennutz zu beschleunigen, und stellte dies in Zusammenhang mit ihrem ungewöhnlich weitgespannten Aktionsradius.“[3]

1683 wurde Justine Siegemund von Kurfürst Friedrich Wilehlm von Brandenburg (1620-1688) als Chur-Brandenburgische Hof-Wehemutter an dessen Hof berufen. Laut ihrer Bestallungsurkunde sollte sie dort hauptsächlich Hofangehörige betreuen. Darüber hinaus wurde sie, was bei geschickten Hebammen zur damaligen Zeit durchaus üblich war, zur Niederkunft und Wochenpflege verschiedener Prinzessinnen und Fürstinnen, an andere, meist eng mit den Hohenhzollern verbundener Höfe, ausgeliehen. „Zum Alltag der über die deutschen Grenzen hinaus berühmten Hofhebamme gehörten nicht zuletzt der Kontakt und Austausch mit akademisch gebildeten Ärzten – und von daher wiederum die Konfrontation mit Konkurrenz und Standesdenken.“[4]

Abb. 3    Tafel 11: Siegemund: Die Königl. Preußische […] Hof-Wehe-Mutter. Berlin: 1756.

1690 veröffentlichte sie ihr Werk: „Die Chur-Brandenburgische Hoff-Wehe-Mutter […]“, nachdem sie 1689 die Billigung dazu von der Medizinischen Fakultät der Universität Frankfurt/Oder bekommen hatte, bei der das Werk davor zur Zensur vorgelegen hatte. In diesem Werk, das sich besonders den „schweren Geburten“ widmete vermittelte sie ihr Wissen in Form eines Dialoges zwischen ihr und einer ihrer Schülerinnen. Die Kupfertafeln im Buch wurden von Samuel Blesendorf (1633-1706) gezeichnet und gestochen. Darin beschreibt Justine Siegemund unter anderem das Drehen des ungeborenen Kindes in der Gebärmutter. Sie gilt als Erfinderin dieses Wendehangriffs – der „gedoppelte Handgriff der Siegemundin“ ist bis heute ein nach ihr benannter Begriff. Siegmunds Werk war ein großer Erfolg beschert. Es zählt zu den bedeutendsten im 17. Jahrhundert auf Deutsch abgefassten geburtshilflichen Werken. Bereits ein Jahr nach der Erstauflage wurde eine niederländische Auflage gedruckt. Im deutschen Sprachraum erschienen weitere Ausgaben 1708, 1715, 1723, 1724, 1741, 1752 und 1756.

Abb. 4    Blatt 186: Siegemund: Die Königl. Preußische […] Hof-Wehe-Mutter. Berlin: 1756.

Quellen:

Homepage: 500 Reformation: von Frauen gestaltet. Stand: 09.08.2018.

http://frauen-und-reformation.de/?s=bio&id=137

Siegemundin, [Sigmund(in)], Justine. In: Ärzte-Lexikon. Von der Antike bis zur Gegenwart. Mit 84 Abbildungen. Hrsg. von Wolfgang U. Eckart und Christoph Gradmann. 3. vollständig überarbeitete Auflage. Heidelberg: Springer Medizin Verlag 2006. S. 303.

Tshisuaka, Barbara I.: Siegemund[in], geb. Dittrich [Dietrich], Justina, Hebamme. In: Enzyklopädie Medizingeschichte. Hrsg. von Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage Gundolf Keil und Wolfgang Wegner. Berlin und New York: Walter de Gruyter 2005. S. 1329.

Pulz, Waltraud: Gewaltsame Hilfe? Die Arbeit der Hebamme im Spiegel eines Gerichtskonflikts (1680-1685). In: Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte. (= Beck’sche Reihe, 1280). Hrsg. von Jürgen Schlumbohm, Barbara Duden, Jacques Gélis und Patrice Veit. München: Beck 1998. S. 68-83 und S. 314-318.

[1] Homepage: 500 Reformation: von Frauen gestaltet. Stand: 09.08.2018. http://frauen-und-reformation.de/?s=bio&id=137

[2] Homepage: 500 Reformation: von Frauen gestaltet. Stand: 09.08.2018. http://frauen-und-reformation.de/?s=bio&id=137

[3] Pulz, Waltraud: Gewaltsame Hilfe? Die Arbeit der Hebamme im Spiegel eines Gerichtskonflikts (1680-1685). In: Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte. (= Beck’sche Reihe, 1280). Hrsg. von Jürgen Schlumbohm, Barbara Duden, Jacques Gélis und Patrice Veit. München: Beck 1998. S. 69.

[4] Homepage: 500 Reformation: von Frauen gestaltet. Stand: 09.08.2018. http://frauen-und-reformation.de/?s=bio&id=137

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Aus den medizinhistorischen Beständen der Ub MedUni Wien [70]: Nihell, Elizabeth: La Cause De L’Humanité, Référée Au Tribunal du bon sens & de la raison: Ou Traité Sur Accouchemens Par Les Femmes. 1771.

Nihell, Elizabeth: La Cause De L’Humanité, Référée Au Tribunal du bon sens & de la raison: Ou Traité Sur Accouchemens Par Les Femmes. Ouvrage très-utile aux Sages-Femmes, & très-intéressant pour les Familles. Traduit de l’Anglois. London, Paris: Chez Antoine Boudet, Imprimeur du Roi 1771.

[Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin/Josephinische Bibliothek, Sign.: JB3874]

https://ubsearch.meduniwien.ac.at/

Text: Harald Albrecht, BA

Abb. 1    Elizabeth Nihell (1723-1776)

Elizabeth Nihell (1723-1776) war eine der bekanntesten und streitbarsten englischen Hebammen ihrer Zeit. Sie wurde 1723 in England geboren und stammte aus einer französisch-katholischen Familie. 1740 zog sie nach Paris wo sie den Mediziner und Apotheker Edmund (oder Edward) Nihell heiratete. Dieser kam aus einer bekannten irischen Familie, die zahlreiche Kaufleute, Mediziner, Priester und Autoren hervorgebracht hatte. Das Paar hatte zumindest ein gemeinsames Kind. 1747 begann Elizabeth Nihell ihre Ausbildung im Pariser Hôtel-Dieu, das von Louis duc d’Orléans (1703-1752) gefördert wurde. Eine ihrer Ausbildnerinnen war die berühmte französische Hebamme Angélique Marguerite Le Boursier Du Coudray (1712-1794). Während ihrer zweijährigen Zeit im Hôtel-Dieu fanden dort etwa 2.000 Geburten statt. Nihell konnte, was für die damalige Zeit sehr ungewöhnlich war – die meisten Hebammen waren nur sehr rudimentär oder gar nicht ausgebildet – in dieser Institution einen reichen Schatz an Erfahrungen sammeln.

1754 übersiedelte Elizabeth Nihell mit ihrem Mann zurück nach London, wo sie mindestens bis 1772 als Hebamme praktizierte. Schon in Paris beobachtete sie das Aufkommen immer mehr chirurgisch ausgebildeter männlicher Geburtshelfer mit großer Skepsis und Argwohn. Die Situation in England stellte sich ähnlich dar. Während die männlichen Geburtshelfer stetig zunahmen und immer höhere Preise für ihre Dienste verlangen konnten, wurden die Hebammen immer mehr zurückgedrängt und mussten sich mit immer geringeren Honoraren zufriedengeben. Nihell versuchte sich gegen diese Marginalisierung ihrer Berufsgruppe zu wehren und attackierte ihre männliche Kollegenschaft öffentlich. Nihell throws herself with great gusto into the very frontline of the battle between the two sexes over who should provide antenatal care and attend women in labour: female midwives with their inborn aptitude, empathetic approach and nature-friendly practice, or male practicioners keen to intervene to show their ‘superiority’ over women through crude attempts at early intervention and the use of forceps.“[1] Besonders die Geburtszangen, die ihre männlichen Kollegen verwendeten waren ihr ein Dorn im Auge, da sie ihrer Ansicht nach wesentlich mehr Schaden als Nutzen bringen würden. Eines ihrer Lieblingsziele ihrer öffentlichen Angriffe war William Smellie (1697-1793), einer der ersten und bekanntesten männlichen Geburtshelfer Englands. Many of her strongest attacks were dedicated at William Smellie who, through his classes for both male and female midwives, had increasing influence. She belittled his physique, alluding to his large hands, ‘the delicate fist of a great-horse-godmother of a he-midwife’.“[2]

1760 publizierte Elizabeth Nihell ihr Hauptwerk unter dem Titel: Nihell, Elizabeth: A Treatise On The Art Of Midwifery. Setting Forth Various Abuses therein, Especially as so the Practice with Instruments: The Whole Serving to put all Rational Inquirers in a fair Way of very safely forming their own Judgment upon the Question; Which it is best to employ, In Cases of Pregnancy an Lying-In, A Man-Midwife; Or A Midwife. London: Printed for A. Morley, at Gay’s-Head, near Beaufort Buildings, in the Strand 1760.

Die Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin besitzt eine französische Übersetzung dieses Buches aus dem Jahr 1771: Nihell: La Cause De L’Humanité […]. London, Paris: 1771. Nihells Werk versteht sich nicht nur als Lehrbuch für Hebammen sondern auch als Streitschrift für ihre Sache, in der sie auch für ihre Positionen eintrat.

Abb. 2    Titelblatt: Nihell: La Cause De L’Humanité […]. London, Paris: 1771.

Elizabeth Nihell konnte jedoch die Entwicklungen ihrer Zeit nicht aufhalten. Es kann angenommen werden, dass sie ca. 1771 von ihrem Mann verlassen worden war. Unter den fortschreitend erschwerten Bedingungen für Hebammen musste sie nun ohne jede finanzielle Unterstützung für sich selbst aufkommen. Ab 1775 blieb ihr nichts anderes übrig als in ein Armen-Arbeitshaus zu ziehen wo sie ein Jahr später, 1776, starb.

Quellen:

Beal, Jane: Elizabeth Nihell. A feisty English midwife (1723-1776). In: Midwifery today. (114) 2015. S. 56-57.

Bosanquet, Anna: Inspiration from the past (3). Elizabeth Nihell, the ‘anti-obstetric’ midwife. In: The practising midwife. (12/10) 2009. S. 46-48.

Nihell, Elizabeth (b. 1723). In: On the shoulders of giants: eponyms and names in obstetrics and gynaecology. Von Thomas F. Basket. London: RCOG Press 1996. S. 160-161.

Nihell, Elizabeth (1723-?). In: The history of obstetrics and gynaecology. Von Michael J. O’Dowd und Elliot E. Philipp. Carnforth/Lancashire: Parthenon Publishing Group 1994. S. 638-639.

[1] Bosanquet, Anna: Inspiration from the past (3). Elizabeth Nihell, the ‘anti-obstetric’ midwife. In: The practising midwife. (12/10) 2009. S. 46.

[2] Nihell, Elizabeth (b. 1723). In: On the shoulders of giants: eponyms and names in obstetrics and gynaecology. Von Thomas F. Basket. London: RCOG Press 1996. S. 161.

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