Aus den medizinhistorischen Beständen der Ub MedUni Wien [122]:
Gustav Adler – Polizeiarzt, Sozialhygieniker, Schulreformer und Sportfunktionär – aus der Separata Bibliothek der Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin
Text: Dr. Walter Mentzel
Abb.1 Gustav Adler, Datierung zwischen 1914 und 1918. Copyright: Johannes Baillou (Privatbesitz)
Gustav Adler, Polizeiarzt im Personalstand der Polizeidirektion Wien, engagierte sich öffentlich für die körperliche Jugenderziehung und war vor dem Ersten Weltkrieg in der Wiener Schulreformbewegung aktiv. Adler wurde am 9. Dezember 1857 in Maleschitz in Böhmen (heute: Malešice/Tschechien) als Sohn von Abraham und der Cecilie, geborene Frankl, geboren, und konvertierte 1892 vom jüdischen zum evangelischen Glauben (AB). Nach Abschluss seines Medizinstudiums an der Universität Wien 1882 trat er 1887 als polizeiärztlicher Funktionär in den Dienst der Polizeidirektion Wien[1] ein, ein Jahr darauf erfolgte seine Bestellung zum Amtsarzt in seinem Heimatbezirk Wien Margareten. 1888 übernahm er auch die unentgeltliche Funktion eines Anstaltsarztes in dem im selben Jahr eröffneten ersten öffentlichen Kindergarten – dem „Ersten Wiener Volkskindergartens“ in Margareten[2] – und engagierte sich im Vorstand des vom Turnpädagogen, Germanisten und Professor an der Universität Wien, Jaro Pawel (1850-1917), gegründeten Turnverein-Margareten.[3] 1893 erfolgte seine Ernennung zum Polizeiassistenzarzt, 1892 zum Polizei-Bezirksamtsarzt 2. Klasse[4] und 1910 zum Polizei-Oberbezirksarzt.[5] 1920 erhielt er den Titel Regierungsrat und 1922 den Titel Hofrat.[6]
Als Polizeiarzt stand er der Entwicklung des öffentlichen Gesundheitswesens und der Spitalsversorgung in Wien kritisch gegenüber. In zahlreichen Zeitungsartikeln und veröffentlichten Vorträgen gab er einen ungeschönten Einblick in die Arbeit der Polizei- und Armenärzte, die in der Phase der rasanten Stadterweiterung und Bevölkerungsentwicklung Wiens mit den unmittelbaren sozialen Folgen konfrontiert waren und als Vermittler und Letztverantwortliche bei der Entscheidung über eine Spitalseinweisung zwischen den Patient*innen, den Rettungsgesellschaften und der Sanitäts- und Spitalsverwaltung amtieren mussten. Dabei übte er scharfe Kritik an der Ärzteschaft und den Spitälern bei der von ihnen angewandten systematischen Exklusion von Patient*innen und insgesamt an dem durch Einsparung bei den Bettenbeständen und selektiven Aufnahmerestriktionen geprägten Gesundheitssystems, das sich durch die Abweisung sozial Benachteiligter und Ausgegrenzter sowie kostenintensiver chronisch erkrankter und älterer Patient*innen auszeichnete. Seine Kritik mündete in der Forderung nach einem großzügigen Aufbau von Unfallkrankenhäusern, Rekonvaleszenten- und Tuberkuloseanstalten. 1907 hielt er dazu in der Jahresversammlung des Vereines der Sanitätsbeamten in Niederösterreich am Hygienischen Universitätsinstitut der Medizinischen Fakultät Wien einen Vortrag, der in drei Teilen [1. Teil, 2. Teil, 3. Teil] in der Zeitschrift „Wiener klinische Rundschau“ abgedruckt worden ist.[7]
Über Jahrzehnte beteiligte sich Adler an der vor dem Ersten Weltkrieg aufkommenden Schulreformbewegung, innerhalb der er vor allem der körperlichen Jugenderziehung an Schulen einen besonderen Platz einräumte, ebenso aber vehement für die Bereitstellung von Sportbetätigungsmöglichkeiten im öffentlichen Raum und deren Berücksichtigung bei der Städte- und Bauplanung in Wien eintrat. Dazu publizierte er in der Zeitschrift „Die Zeit“ in den Rubriken „Die Pädagogische Zeit“ und „Die medizinisch-hygienische Zeit“ Artikel zur „Wohnungsbeschaffenheit und Schwindsuchtverbreitung“[8], oder zur „Schülerhygiene und Mittelschulenquete“,[9] in denen er die durch das Schulsystem hervorgerufenen Schädigungen an den Kindern thematisierte. 1909 und 1910 berichtete er über die Fortschritte aber auch über die Widerstände der öffentlichen Verwaltung bei der Umsetzung der Maßnahmen zur körperlichen Entwicklung und von Sportangeboten im Schulbereich,[10] was ihn 1909 auch bewog einen Aufruf des Österreichischen Elternbundes zur Umsetzung einer Schulreform mitzuunterzeichnen, in dem die Mitbestimmung der Eltern in Schulfragen und deren rechtlich verankerte Vertretung eingefordert wurde.[11] Vor dem Ersten Weltkrieg nahm er noch an mehreren Enqueten zur Frage des körperlichen Erziehungswesens teil. Darunter 1909 an der vom Unterrichtsministerium organisierten Wiener Enquete, wo er über „Die Stellung der Schule und der Unterrichtsverwaltung zur körperlichen Erziehung“ referierte[12] und 1911 an der ministeriellen Enquete des 1906 gegründeten Vereins für Schulreform, auf dem er über die sozialhygienische Bedeutung der Spielplatzfrage und über die Spielplatznot in Wien referierte[13] und für ein gesetzliches Mindestmaß an Spielplatzflächen bei städtischen Bauvorhaben eintrat. Seine hier gehaltenen Ausführungen wurden 1912 in einem Sonderdruck der „Wiener klinischen Rundschau“ publiziert und befinden sich als Separatum an der Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin.
[Zweigbibliothek für Geschichte der Medizin/Separata Bibliothek]
Adlers Eintreten für den Jugendsport schlugen sich auch in seinem Engagement für den Schwimmsport nieder, dem er eine wichtige Funktion in der körperlichen Erziehungsarbeit bei Kindern und Jugendlichen beimaß. Er war Funktionär und zweiter Vizepräsident des 1894 gegründeten Wiener Schwimmklub „Austria“[14], in dem auch seine beiden aus der Ehe mit Maria Eleonore Adele Müller (1869-1958), stammenden Töchter Auguste und Margarete (*13.2.1896 Wien-22.4.1990 Wien) als Sportlerinnen aktiv waren. Margarete Adler, Schwimmerin im Wiener Damen-Schwimm-Klub „Danubia“[15] und „Austria“, nahm an den Olympischen Sommerspielen 1912 und 1924 als Turmspringerin teil und errang 1926 den Titel Europameisterin im Kunstspringen.[16] Ihre Schwester war ebenfalls als Schwimmerin im Wiener Damen-Schwimmklub „Austria“ aktiv.
Abb. 2 Margarete Adler 1915. Aus: Allgemeine Sport-Zeitung, 4.7.1915, S. 356.
Auch nach dem Weltkrieg blieb Adler publizistisch tätig. Im Wiener Tagblatt veröffentlichte er eine Reihe von Artikeln, darunter 1922 zum öffentlichen Rettungsdienst,[17] 1923 über mangelnde öffentliche Unterstützung bei der Bekämpfung der Trunksucht[18] und 1927 im Wiener Journal zum Thema Rechtspflege und Psychiatrie.[19] Gustav Adler verstarb am 3. Juni 1928 in Wien.
Quellen:
AUW, Med. Fak., Rigorosenprotokoll Sign. 177, Zl. 5b, Adler Gustav.
AUW, Med. Fak., Promotionsprotokoll, Sign. 186, Zl. 1332, Adler Gustav.
AUW, Med. Fak., Nationalien/Studienkatalog, Sign. 134, Zl. 117, Adler Gustav.
AUW, Med. Fak., Nationalien/Studienkatalog, Sign. 134, Zl. 217, Adler Gustav.
Taufbuch der Evangelischen Pfarrgemeinde, Wien Innere Stadt, Adler Gustav (11.2.1892).
Trauungsbuch, Evangelische Pfarrgemeinde (AB)m Wien Innere Stadt, Adler Gustav 1892, Zl. 272, Gustav Adler, Maria Eleonore Adele Müller.
Sterbeeintrag Adler Gustav: Evangelische Pfarrgemeinde Wien Gumpendorf, Totenbuch 1928, Seite 149, Reihenzahl 69.
Friedhofsdatenbank Wien: Pfundner Margarethe
[1] Wiener Medizinische Wochenschrift, Nr. 2, 1887, Sp. 53.
[2] Neue Freie Presse, 3.12.1888, S. 3.
[3] Die Presse, 20.2.1889, S. 15.
[4] Wiener Klinische Wochenschrift, 5.1.1893, S. 18 und Die Presse, 28.12.1892, S. 15.
[5] Internationale klinische Rundschau, Nr. 21, 1910, S. 320.
[6] Wiener Medizinische Wochenschrift, Nr. 2, 1922, Sp. 117.
[7] Wiener klinische Rundschau, Nr. 37, 1907, S. 589-590; Nr. 38, S. 604-606; Nr. 39, S. 621-623.
[8] Die Zeit, 14.4.1906, S. 12.
[9] Die Zeit, 24.6.1908, S. 14, 1.7.1908, S. 14 und 25.6.1908, S. 13.
[10] Die Zeit, 12.5.1909, S. 13 und 19.6.1910, S. 6.
[11] Neues Wiener Tagblatt (Tages-Ausgabe), 13.2.1909, S. 8.
[12] Arbeiter Zeitung, 29.3.1909, S. 4.
[13] Neues Wiener Tagblatt (Tages-Ausgabe), 9.11.1911, S. 11. Internationale klinische Rundschau, 4, 1912, S. 52-54. Nr. 5, 1912, S. 68-70.
[14] Allgemeine Sport-Zeitung, 19.3.1911, S. 304.
[15] Allgemeine Sport-Zeitung, 3.12.1911, S. 1652.
[16] Die Weltpresse, 9.3.1949, S. 5.
[17] Neues Wiener Tagblatt (Tages-Ausgabe), 9.10.1922, S. 4.
[18] Neues Wiener Tagblatt (Tages-Ausgabe), 24.5.1923, S. 7.
[19] Neues Wiener Tagblatt (Tages-Ausgabe), 29.12.1927, S. 5.
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