Gastautor Prof. Dr. Peter Heilig: ADAPTATION und VIRTUAL REALITY (VR)

ADAPTATION und VIRTUAL REALITY (VR)

Peter  Heilig

Der Mensch ist das Maß aller Dinge* – und nicht umgekehrt, wie es zurzeit scheint. Auge und Zentralnervensystem können sich nicht an die zunehmend überdosierten potentiell phototoxischen Licht-Intensitäten ‚adaptieren‘. Je nach Intensität und Dauer der Exposition manifestieren sich akute – oder bei wiederholten, scheinbar reversiblen Lichtbelastungen, bleibende retinale Lichtschäden. Auch stetig zunehmende ‚overloads‘ der Arbeitsspeicher (working memory) und speziell der visuellen Kurzzeitspeicher (visual short term memories, VSTM) im Straßenverkehr (durch daytime running lights z.B.) bewirken kognitive Ausfälle (Distraction Blindness, Inattentional Blindness). Keine Adaptation oder Ähnliches könnte die kapazitiven Limits des Sytems an unphysiologische Stimulationen anpassen.

„Retinale Plastizität“ kann Netzhautschäden (z.B. solar retinopathy) beheben, allerdings nur beim Erdhörnchen während des Winterschlafes. Bipolare Dendriten ‚erinnern‘ sich in dieser Ruhephase an vormals intakte neuronale Verbindungen und stellen diese mit erneuerten, voll funktionierenden Elementen wieder her (‚remodeling‘). Und im Frühjahr, noch vor dem Aufwachen, sind diese kaum vorstellbaren Reparatur-Prozesse beendet.

Die Industrie nimmt offenbar an, dass solche Wunderheilungen auch bei allen Exemplaren der species homo sapiens sapiens möglich wären. Potentiell phototoxisches Licht wird aus extrem kurzer Distanz in die Augen zukünftiger ‚VR-User‚ gejagt. Es warten auf sie Prototypen (VR-Head Mounted Displays (VR-HMDs)) mit Leuchtdichten von angeblich ~ 6000 cd/m2. Mit dem Quadrat der Entfernung nimmt die Lichtintensität ab – vice versa. Der bedenkenlose und gedankenlose  Einsatz von extrem hellen Lichtquellen, noch dazu in derart minimalem Abstand vom Auge, grenzt an Körperverletzung (§ 84 StGB). Blendungs -Abwehrmechanismen werden intentional ausgeschaltet und energiereiches kurzwellig dominiertes Licht wird (meist über sehr lange Zeiträume) wie mit einem Brennglas auf der Netzhautebene fokussiert.

TU Berlin: „Es gibt keine Einschränkungen bzgl. potenzieller Blaulichtgefährdung bei der Wahl von Displays (VR), die heute am Markt sind.“ (Leontopoulos et al).‘VR‘ stünde nun eher für ‚Verkannte Realität‘. Aussagen, wie: “ es spielt das Risiko für Blaulichtschäden keine Rolle“ (siehe unten) charakterisieren inakzeptable ‚Risikobereitschaft‘. Dieses Risiko tragen aber nicht die Erzeuger, sondern gutgläubige, aber ahnungslose Nutzer, welche durch keinen ‚Beipacktext‘ vor möglichen irreversiblen Schäden gewarnt werden.

Die physiologische Anpassungsfähigkeit des menschlichen Auges an Licht-Intensitäten – die Adaptation, erstreckt sich über einen bemerkenswert großen Bereich, von ~ 10-6 cd/m2  bis 105 cd/m2. Die Pupille trägt relativ wenig dazu bei (~ 4:1 bis 16:1); die entscheidenden Prozesse laufen retinal ab. „The impedance level of the electrolytic photoreceptor neuron is orders of magnitude higher than any electronic circuitry made by man“ (Fulton).

„Physiologische“ (?) Blendung, wie sie noch immer als ‚misnomer‘ in halbamtlichen und amtlichen Leitlinien ihr Unwesen treibt, ist eine contradictio in adjecto. Und wenn in der Sinnesphysiologie irgendetwas unphysiologisch ist, dann die Blendung. Der ebenfalls noch nicht zu Grabe getragene Terminus „psychologische“ (?) Blendung ist Sinn-entleert. Disability Glare und Discomfort Glare beschreiben eindrucksvoll die Einflüsse derart unerwünschter Lichtintensität-Überdosierungen. Disability Glare: schwere Blendung, kann sich je nach Expositionsdauer und Intensität fatal lange auswirken – erhöhtes Unfallrisiko.

Discomfort Glare lenkt ab und kann als ‚Distraction Blindness‘ (overflow der visual short term memory (VSRT), working memory etc.) Funktionsausfälle verursachen. Zusätzlich zu überdosierten Licht-Expositionsdauern und -Intensitäten können Medientrübungen sowie retinale Lichtschäden, Maculadegeneration etc. die Problematik weiter verschlimmern.   


Quantifizierungsversuche und mathematische Modellierungen, wie das Umwandeln in komplizierte Formeln (s. unten) tragen nicht zum besseren Verständnis bei. Experten, wie Verkehrspsychologen, Unfallforschern, Verkehrs-Juristen und -Medizinern wird mit solch merkwürdig-kryptischen Formeln (s. unten) ein ‚Bärendienst erwiesen‘.

“ U G R = 8 log 0.25 L b n ( L n 2 ω n p n 2 ) , {\mathrm {UGR}}=8\log {\frac {0.25}{L_{{b}}}}\sum _{{n}}\left(L_{{n}}^{2}{\frac {\omega _{{n}}}{p_{{n}}^{2}}}\right),

Where log \log is the common logarithm (base 10), L n L_{{n}} is the luminance of each light source numbered n n, ω n \omega _{n} is the solid angle of the light source seen from the observer and p n p_{{n}} is the Guth position index, which depends on the distance from the line of sight of the viewer”.

Zusätzlich zu adaptiven Prozessen in Zapfen und Stäbchen wurden solche gleicherweise auch in mRGCs beobachtet – in Zusammenhang mit ‚circadian entrainment, intraretinal processing‘, Einflussnahme auf Adaptationszustände anderer retinaler Elemente etc.: „ipMRGC-driven visual pathways and behaviors may be more complex than previously thought“.

Auch die unterschätzte Müllersche Glia (MG) liefert wertvolle Beiträge zur Adaptation: “..activation of Dio2 in MGs during light adaptation is involved in the regulation of mitochondrial metabolism and gene transcription in cones via the TH (thyroid hormone signaling) pathway and intercellular communication. . Furthermore, light increased the transcription of the deiodinase Dio2 in MGs, which converted thyroxine (T4) to active triiodothyronine (T3). Subsequently, light increased T3 levels and regulated mitochondrial respiration in retinal cells in response to light conditions (Wei et al).”

Die immer wieder totgesagte Elektroretinographie ’schloss einen Kreis‘: Vor über siebzig Jahren dokumentierte das ERG retinale Recovery Prozesse (Photorezeptoren, Bipolare) im Rahmen der Dunkel-Adaptation. Nach massiver Bleichung brauchte der „rod photoreceptor circulating current, estimated from the rod‐isolated bright‐flash ERG a‐wave, dreissig Minuten um sich zu erholen** –  „indicating that products of bleaching, thought to be free opsin (unbound to 11‐cis‐retinal), continue to activate phototransduction, shutting off rod circulating current“. Hingegen „cone current, assessed with cone‐driven bright‐flash ERG a‐waves, recovers within 100 ms following similar exposures, suggesting that free opsin is less able to shut off cone current.“

Diese Resultate bestätigen die Ergebnisse densitometrischer und psychophysischer Studien.  „Post‐bleach ERG recovery has been explored in age‐related macular degeneration and in trials of visual cycle inhibitors for retinal diseases. ERG tracking of dark adaptation may prove useful in future clinical contexts.“

Über experimentelle ‚Wiederbelebungen‘ retinaler Elemente humaner Donor-Augen nach ‚irreversiblen‘ Schäden wurde schon berichtet: Noch sind dies zwar aufsehenerregende ‚Breaking News‘ – Berichte aus der Grundlagenforschung; eine Hoffnung auf klinische Anwendung gibt es noch nicht – vielleicht einmal in ferner Zukunft. Behutsameres Procedere mit Licht-Intensitäten ist anzuraten – als prophylaktische Empfehlung. (Abbas F et al (2022) Revival of light signalling in the postmortem mouse and human retina. Nature https://doi.org/10.1038/s41586-022-04709-x“ : während der ersten fünf Minuten nach massiver ‚Bleichung‘: „rod circulating current was undetectable in the first 5min“  – dies kann als objektives Kriterium in Zusammenhang mit zeitlichen Abläufen der Disability Glare-Psychophysik gewertet werden.

ipMRGC: intrinsic photosensitive Melanopsin expressing Retinal Ganglion Cells.

Thibos LN et al (2018) What is a troland? J Opt Soc Am A Opt Image Sci Vis 1;35(5):813-816.

Strettoi E et al (2022) Retinal Plasticity. vnt J Mol Sci. 2022 Feb; 23(3): 1138.

Beier C et al (2018) Stereotyped synaptic connectivity is restored during circuit repair in the adult mammalian retina. Curr Biol  4; 28(11): 1818–1824.e2.     (13-Lined Ground Squirrels)

Karl A et al (2018) Retinal adaptation to dim light vision in spectacled caimans (Caiman crocodilus fuscus): Analysis of retinal ultrastructure. Exp Eye Res 173:160-178.

Contreras E et al /2021). Melanopsin phototransduction: beyond canonical cascades. J Exp Biol. 1;224(23):jeb226522.

Boyce PR (2003), „Unified+glare+rating“&pg=PA177 Human Factors in Lighting Archived 2018-01-13 at the Wayback Machine, 2nd edition, Taylor and Francis, London p. 177

Wei M et al (2023) Single-cell profiling reveals Müller glia coordinate retinal intercellular communication during light/dark adaptation via thyroid hormone signaling. Protein Cell. 2023 Aug 1;14(8):603-617.

Jiang X et al (2022) Human retinal dark adaptation tracked in vivo with the electroretinogram: insights into processes underlying recovery of cone- and rod-mediated vision. J Physiol;600(21):4603-4621. 

Mahroo OA (2023) Visual electrophysiology and „the potential of the potentials“. Eye (Lond). Aug;37(12):2399-2408.

* Dieser „Homo-mensura-Satz“ stammt von dem zu den Sophisten gehörenden griechischen Philosophen Protagoras (um 481-411 v. Chr.). Er fand sich in dessen verlorener Schrift mit dem Titel »Die Wahrheit«. https://universal_lexikon.de-academic.com/226710/Der_Mensch_ist_das_Ma%C3%9F_aller_Dinge

„In der Allgemeinbeleuchtung spielt das Risiko für Blaulichtschäden keine Rolle. Dies wird durch die für Arbeitsschutz verantwortlichen Gremien (z. B. LiTG, SCENIHR, DGUV) bestätigt. Zu diesem Ergebnis kam auch die im Juli 2017 veröffentlichte „preliminary opinion“ (Scientific Committee on Health, Environmental and Emerging Risks) der wissenschaftlichen Kommission SCHEER, die von der Europäischen Kommission mit einer Risikobewertung von LED beauftragt wurde“.

https://michaelbach.de/2020/04/07/blauer-bloedsinn.html

Epilog: Falls Industrie und Politik die Limits des Sehens, der Kognition und Adaptation, der ‚retinal recovery times‘ etc. zur Kenntnis nähmen – virtualiter sowie realiter – ’stürbe die Hoffnung zuletzt‘.        

Gender: beyond

Interest: no conflict

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