Gastautor Prof. Dr. Peter Heilig:
Distraction Blindness
Concept Ophthalmologie 9/2020
„Alle drei Stunden verunglückt, alle zwei Tage stirbt ein Kind auf der Straße“ – wie prognostiziert: Überflüssige, vermeidbare Ablenker nahmen solange zu, bis schwere kognitive Defizite und komplette Ausfälle – Blackouts – zum Tragen kamen. Vermeiden ließe sich die Distraction Blindness einfach und kostensparend.
„Übersehen“ wurde wieder einmal ein Kind am Schutzweg. Der scheinbar schuldige Lenker hatte sich mit seinem Auto höchst aufmerksam genähert, bei guter Sicht; er war ortskundig und hatte mit Kindern am Schulweg, besonders am Zebrastreifen, gerechnet; es gab keinerlei Ablenkung durch Handy, Zigarette, zu laute Radiomusik etc.; er stand weder unter Alkohol- noch Drogeneinfluss; die ophthalmologischen Befunde waren unauffällig. Dennoch kam es zur vermeidbaren Katastrophe.
Ausfall durch Überstimulation
Überstimulationen kognitiver Prozesse können diesen Funktionsausfall verursachen: Ein „overload“ oder ein „overflow of visual short term memory“, die sogenannte Distraction Blindness (der üblicherweise verwendete Terminus Inattentional Blindness könnte, falsch verstanden, mangelhafte bis fehlende Aufmerksamkeit suggerieren).
Bläulichweiß-grelle Abblendscheinwerfer und Tagfahrlichter
(HI-LED-Daytime Running Lights, DRL) entgegenkommender Fahrzeuge hatten einen schwächeren visuellen Stimulus, das Bild des Kindes, unterdrückt, in den kognitiven Prozessen ausgelöscht. Diese fatale Funktionsstörung täuschte einen leeren Schutzweg vor.
Die Erklärung aus der Kognitionspsychologie sind Gestaltgesetze: „Die Prägnanz: Es werden hauptsächlich Stimuli wahrgenommen, welche sich von anderen durch prägnante (hervorstechende) Merkmale abheben“.
Kognitive Funktionsstörungen treten häufig auf
Derartige kognitive Funktionsstörungen sind weder pathologisch noch kommen sie selten vor. Camouflage, Tarnung, Mimikry, Somatolyse sind Überlebensstrategien, bereits phylogenetisch verankert und fix verdrahtet in den Schaltungen unseres zentralen Nervensystems. Kognitive und multisensorische Illusion, Blendung, Ablenkung, „overt and covert misdirection, attentional capture“ etc. aus den Trickkisten der Magier und Illusionisten, wirken verblüffend, reproduzierbar und bombensicher – von Close-up-Magic (Micro-Magic) bis zur Groß-Illusion. Distraction Blindness im Straßenverkehr wirkt im wahrsten Sinn des Wortes todsicher, so gut wie immer aufgrund nutzloser Ablenker (distractors). Ein triviales Beispiel aus dem Supermarkt, beim verlorenen Blick in überquellende Regale: Das gesuchte Objekt wird gesehen, aber nicht wahrgenommen.
Im augenärztlichen Aufklärungsgespräch wird umsichtig Schritt für Schritt auf Halos und Glare (multifokale Intraokularlinsen, Laser) aufmerksam gemacht, auf Strahlenkränze um Kunstlichtquellen (Halos, Glare, Ghosting, Starbusts, Reduced Contrast Sensitivity ~ GASH) und auf postoperative Dysphotopsien; die Sicca-Problematik wird erörtert etc. Einprägsam und verständlich, vor allem durch die Demonstration bzw. Simulation skotopischer und mesopischer Sehstörungen auf Monitoren.
Ausfälle unter photopischen Bedingungen
Komplizierter gestaltet sich das Erklären visueller sowie kognitiver Störungen und Ausfälle im Straßenverkehr unter photopischen Bedingungen. Tiefstehende Sonne („alles wirkt verschleiert, wie im dichten Nebel“), grelle Verkehrs und blinkende Warnlichter, dynamische Werbung, Blendung (auch Disability Glare) durch kurzwellig dominierte Spektren aus kleinflächigen Lichtquellen samt zunehmend verlängerter Netzhaut-Wiedererholungszeiten: „retinal recovery time“ („Autofahren wie in einem schwarzen Tunnel“) – auch tagsüber durch Autoscheinwerfer, Ablenkung durch Tagfahrlichter (DRL) samt Distraction Blindness etc. Die Versuche, Prophylaxe in die Tat umzusetzen, sprengen allerdings den Rahmen ophthalmologischer Disziplin. Unfallbericht: „LKW-Rechtsabbieger überrollt E-Scooter“. Der Chauffeur hatte höchst aufmerksam rundum kontrolliert, bevor er das Gaspedal betätigte. Die Geschwindigkeit des von rechts hinten kommenden E-Scooters lag möglicherweise über dem gesetzlichen Limit. Das Ereignis war schicksalhaft vorprogrammiert. Zusatzfaktor Distraction Blindness?
Epilog
Im Chor zuständiger Experten fehlt die Stimme der (Verkehrs-) Ophthalmologie, obwohl optimaler, perfekt korrigierter Visus samt störungsfreier, absolut unbeeinflusster Kognition im Straßenverkehr essentiell bis immer öfter lebensnotwendig wäre. Seit der nicht evidenzbasierten Licht-am-Tag-Aufforderung wird über eine „rätselhafte“ Zunahme von Verkehrsunfällen berichtet, immer häufiger am Schutzweg. Die am stärksten gefährdete Gruppe: Kinder. Die Antwort: „Ban of DRL“ (Verkehrskommission
der ÖOG, 2007). Ablenker im Straßenverkehr nehmen zu – offenbar in Korrelation zur Zahl verunglückter Kinder, Passanten und Radfahrer. Höhere Strafen können keine einzige Distraction Blindness vermeiden – infolge vermeidbarer „overflows“ visueller Kurzzeit- und Arbeitsspeicher. Autofahrer-Clubs kritisieren gefährliche Blendungen durch „kleine, nicht homogene Austrittsflächen der Scheinwerfern und Tagfahrlichter“, warnen eindringlich vor dem oft unvermeidlichen Blick in überdosierte Lichtquellen: „Eine Lichtautomatik müsse bei schlechter Sicht und Dämmerung auf nicht blendendes Abblendlicht schalten – ohne DRL“. An Kuppen oder Schwellen, durch Nicken, Stampfen, Schwingen, Gieren, Rollen, Wanken des Fahrzeuges oder durch falsch eingestellte Scheinwerfer verirren sich allzu oft blendende
Lichtstrahlen: Automatische Niveauregelung wäre das Desideratum. An Kuppen mit Ampelschaltung strahlen, auch bei Tageslicht, minutenlang Scheinwerfer in die Augen wartender Gegenverkehr-Lenker.
Ad Blendung
Auch junge Verkehrsteilnehmer klagen über häufige, zunehmend unerträgliche Blendungen im Straßenverkehr Blendkanonen dominieren den Markt. Instinktlos beworbene „Nachtfahrbrillen“ verschlimmern oft die Situation (reduzierter Visus centralis). Netzhaut-Wiedererholungszeiten werden immer länger, die retinalen Lichtschäden nehmen zu. Frühsymptom: diskrete erworbene Dyschromatopsie, zuerst im führenden Auge.
Gelbliches Licht wäre problemlos mit effizienter Intensität dosierbar, lenkte weniger ab, blendet kaum, streut in wesentlich geringerem Maße und verbessert signifikant das Kontrastsehen. „Blaues Licht liefert keinen wesentlichen Beitrag zu Sehschärfe oder Formensehen“ (Brindley 1954!).
Fazit
Distraction Blindness und verwandte kognitive Störungen ließen
sich einfach und kostensparend vermeiden, ohne Tagfahrlicht
(DRL) und brandgefährliche Blendeffekte. Abblendlicht: ausschließlich bei schlechter Sicht. Innerorts: mit der Straßenbeleuchtung.
Korrespondenzadresse:
Univ.-Prof.Dr.med. PeterHeilig
Augenheilkunde undOptometrie
Nussberggasse 11c
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peter.heilig@univie.ac.at
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Katharina und Peter Heilig
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