DAS BLAUBLINDE
– Zentralskotom gibt Rätsel auf. Wie entstand dieser merkwürdige ‚Maxwell spot‘? Das kurzwellige energiereiche sichtbare Licht hinterließ offenbar bleibende Spuren im Lauf der Evolution. Es brannte die S-cones aus – à la longue, im Brennpunkt – in der Fovea centralis. Überlebt haben nur auffällig wenige blau-sensitive Zapfen außerhalb der kurzwellig-phototoxisch geschädigten Scheibe der Fovea centralis.
Dieses ‚blaue Loch‘, besser gesagt die zentrale Lücke im Blau des retinalen Informations-Menüs (20–25 arcmin S-cone free zone) wird nie wahrgenommen. Analog zum Phänomen des ‚perceptual filling-in at the blind spot‘ schalten sich hier automatische Korrektur- oder Retuschier-Programme ein, sogenannte Retouch-Apps, wie dies heutzutage hieße. Die ‚post-receptoral-neural-filling-in processes‘ könnten schon nach der ersten Synapse, in den Interneuronen beginnen, zum Beispiel in Schaltkreisen des Campana-Interneurons, mit dessen ‚unorthodoxen‘ Eigenschaften, wie etwa ‚equal synaptic inputs‘ und Nachbild- Phänomenen, die experimentell beobachtet wurden.
Auch in höheren visuellen Bahnen bis hin zum Cortex (’neurons located in deep layers of the V1, particularly layer 6′) wurden filling-in-Aktivitäten beschrieben. Bottom up- steht somit außer Frage. Top Down-Prozesse via ‚centrifugal visual neurons‘ drängen sich auf, in diesem Zusammenhang eine faszinierende Möglichkeit: Cortex an Retina: „Diese blaue Fläche weist keinen Defekt auf. Sie ist durchgehend – lückenlos blau.“ (in Anlehnung an Otto Waalkes).
Tritanope Zentralskotome führender Augen (‚Maxwell’s spot centroid‘) sind annähernd kreisrund, die der Partneraugen etwas größer und unregelmäßig begrenzt. Warum? Die Fixation dominanter Augen ist exakter und stetig, die Amplituden der oszillierenden Suchbewegungen der Partneraugen etwas größer, die Fixation im Extremfall – bei Amblyopie zum Beispiel – unstet bis exzentrisch. Dementsprechend sind die Radien solcher Maxwell spots dementsprechend größer. Dazu käme ein weitere Gesichtspunkt: Die führenden Augen ermöglichen optimiertes Kontrastsehen; in den Partneraugen wird eine etwas größere Fläche des Zapfenmosaiks stimuliert, dadurch mehr an chromatischer Informationen gesammelt. Ergänzt durch die Effekte der dynamischen Konvergenz und Akkomodation werden dem praefrontalen Cortex lebendige Bilder geliefert, welche nahezu allen Herausforderungen gewachsen sind – von Miniaturmalerei, dem Unterscheiden eines Hauchs von Farb-Schattierungen bis Mannschafts- und Hochgeschwindigkeits-Sport etc.
Gutes Kontrastsehvermögen (CSF) steht als Gradmesser sowie als Therapie-Erfolg z.B. oben auf den Listen. Es ist quantifizierbar, beschreibt aber nur einen winzigen Ausschnitt facettenreicher visueller und kognitiver Funktionen. Dazu eine erstaunliche Beobachtung:
„We determined the achromatic CSF function and the spatial resolution of the chromatic (red-green) channel of Harris’s hawks, an actively hunting diurnal raptor species. While the highest achromatic spatial resolution of Harris’s hawks (40–60 c deg−1) is in a similar range as in humans, the highest contrast sensitivity (11–12) is approximately ten times lower than that in humans, and the resolution for red-green gratings (16–22 c deg−1) is twice as high“ (Potier et al 2018). Ein überraschendes sowie lehrreiches Resultat. Dazu käme nun noch das Bewegungsehen: Abhängig von den Hintergrundkontrasten kann der Mensch ab einer Winkelgeschwindigkeit von ~ 0,02°/s bis 0,2°/s Bewegungen erkennen. Der oben zitierte Wüstenbussard (Parabuteo unicinctus) vermutlich noch besser.
Unbegreiflicherweise entwickelte sich das Kunstlicht immer mehr in Richtung blendend – blaulastiger Spektren: ‚Blue enriched‘ – offenbar in der Hoffnung Arbeitswut und Kauflust anzukurbeln. Auch als Waffe gegen die um sich greifenden Dysphorien ist es häufig im Einsatz – mit wechselndem Erfolg. Wenige Minuten Bewegung bei Tageslicht, im Freien erzielen deutlich bessere Erfolge, nicht nur ‚aufhellend‘, was die Psyche anbelangt, sondern auch bezüglich Stoffwechsel, Fitness und der Myopie-Prophylaxe.
Die Retinopathia solaris, allzu oft nach einer Sonnenfinsternis zu diagnostizieren – das Paradebeispiel für retinale Lichtschäden – ist quasi ein Experiment der Natur, welches retinale Lichtschäden besonders drastisch vor Augen führt. Auch die intrinisch positiven Melanopsin-Retinalen-Ganglienzellen (ipRGCs), mit ihrem Empfindlichkeitsmaximum im Blau, sind nur parazentral, im Bereich der S-cone-Verteilung zu finden. Wahrscheinlich erlitten sie ein ähnliches evolutionsbiologisches Schicksal in diesen Netzhautbereichen, welche chronisch von kurzwelligem Licht bombardiert wurden. Eine gewagte Hypothese?
Möglich – so lange, bis sie durch eine bessere Theorie entkräftet wird. Selbst die Suche nach einer teleologischen Erklärung verlief enttäuschend.
ad Licht-Therapie: Einige Psychopharmaka können unerwünschte photosensibilisierende Wirkung haben – dadurch werden die Netzhäute vulnerabler. Retinale Lichtschäden können könnten den Weg zur Maculadegeneration pflastern.
ad Verkehrs-Ophthalmologie: Beratungsresistent wird am Bedarf mit grell-bläulichweißen Leuchtmitteln vorbeiproduziert, ohne physiologische Limits von Seh-Funktionen und der kognitiven Prozesse zu berücksichtigen. Gelbliche Leuchtmittel kamen aus der Mode.
* Das blaue, energiereiche, sichtbare, natürliche Licht verursachte evolutionsbiologisch den Untergang von S-cones im Bereich dieser schlussendlich blaublinden Maxwell-Spots. Blaues Licht hat doppelt so viele Elektronenvolt wie das langwellige -.
Lit.
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https://www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/bewegungssehen/1436
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