Gastautor Prof. Dr. Peter Heilig: Tetrachromasie. Ein Mythos?

Tetrachromasie. Ein Mythos?

Prof. Dr. Peter Heilig

Die Tetrachromasie wäre Flaggschiff der Gender-Medizin, wenn es nicht „mehr Fragen als Antworten“ gäbe. Warum kommen – on dit – praktisch nur Frauen in den Genuss dieses Phänomens? Und – welches weitere Photopigment könnte ein viertes, unabhängiges Signal ermöglichen sowie – welche retinalen Mechanismen lägen einer „strong tetrachromasy“ zugrunde?

Die Trichromasie per se bedürfte im Grunde keiner vierten, bislang noch immer nicht ‚Evidence basierten‘ (EBM) Funktion. Sämtliche Farbnuancen (‚shades‘) wären auf trichromatischer Basis korrekt perzipierbar; auch verschiedene quantenphysikalische Prozesse spielen bei komplexen photorezeptiven Prozessen wie dem Farbsehen eine wesentliche Rolle – mit nahezu unbegrenzten Zahlen wahrnehmbarer und voneinander unterscheidbarer Farbschattierungen – vermutlich. Worin bestünden also die Vorteile eines angeblich noch umfangreicheren tetrachromatischen Farbensinnes?

Trichromaten sehen etwa eine Million Farben, Tetrachromaten möglicherweise 100 Millionen Farben“  (Jay Neitz).

Die von Medien plakativ beworbene malende Tetrachromat-Künstlerin könnte mit ihrem Talent nur vor einer kleinen, streng ausgewählten Gruppe, vor vermeintlichen Tetrachromatinnen reüssieren. ‚Perlen vor die Säue werfen‚ hieße es zu einer ihrer Vernissagen ausschließlich ‚gemeine‘ Trichromaten einzuladen. Sie wären, streng genommen, ein wenig – vergleichsweise –  Farben-“blind“, folglich unfähig „Tetra-Chroma-Kunstwerke“ im vollen Umfang zu genießen. Auch Kunstkritiker sollten sich in derart exklusiven Zirkeln vornehmer Zurückhaltung befleißigen. Streng genommen müssten diese ‚Beckmesser‘ den von ihnen zu begutachtenden Künstlern zumindest ebenbürtig sein, nicht nur in tetrachromatischer Hinsicht.

Aphake (postop., ohne IOL-UV-Filter) hätten übrigens noch „Valenzen frei“. Sie könnten bis hin zu gewissen Wellenlängen-Bereichen auch rein ultraviolette Stimuli wahrnehmen (M5 z.B.), evtl. Zeitungsüberschriften entziffern. In solch einem speziellen Fall wäre jedoch der Terminus ‚Tetrachromasie‘ (wie bei speziellen Tieren) fehl am Platz. Ein besonderer, in seiner Bedeutung meist unterschätzter retinaler Rezeptor wird  selten als möglicher Faktor in die Diskussionen miteinbezogen: die ‚intrinsic photosensitiven Melanopsin exprimierenden retinalen Ganglienzellen (ipMRGC)‘ – sechs Subtypen (M1 – M6) mit unterschiedlichen Eigenschaften (the signal transduction in ipRGCs is more complex than originally thought“, Detwiler 2018). Experimentell ließ sich die spektrale Sensitivität samt bemerkenswerten Wirkungen eindrucksvoll demonstrieren: Gelbes Licht reduzierte (um etwa 50%) die Kammerwasserproduktion.

Psychophysikalische Resultate der MRGC-Funktionen scheitern meist am Methodischen. Allerdings – so mancher Migraine-Ophtalmique-Patient erlebt rein subjektiv eindrucksvolle halluzinatorische Phänomene mit dynamischen Farbstrukturen. Die während des Anfalls – zuvor niemals wahrgenommenen – Farbsplitter und Zackenbilder, strahlend-gleissend Kaleidoskop-artig, vermitteln diesen Migraineurs opht. vielleicht doch eine leise Ahnung von dieser sagenhaften (aber möglicherweise fiktiven -) Tetrachromasie. Die Lokalisationen dieser meist streng kreisförmig angeordneten szintillierenden Trugbilder könnte den retinalen ipMRGC – Verteilungsmustern entsprechen.

Genug Hypothesen – unabhängig davon, wo derartige Farb- und Licht-Phänomene ihren Ursprung haben könnten samt darauffolgenden Erregungskaskaden – eine Frage bleibt zum Teil unbeantwortet: die Gender-Medizinische, basierend auf – z.B. „x-Chromosome-Inactivation.“ Was hätten denn in der ruhmreichen Vergangenheit Tetra-Chrom–Maler zuwege gebracht? Wie sähen van Goghs Farben aus oder die in allen Farben schwelgenden Impressionisten, was wäre anders in der Farb-Palette Tizians und der eines Rembrandt – etc. Die digitale Gegenwartskunst scheidet aus dem Rennen; apropos: Online-‚Tetrachromasie-Tests‚ sind auf alle Fälle ungeeignet, sie wären es auch für ‚Tetrachromatinnen‚.

Allzu einfach wäre es die ‚Tetrachromasie‘ schlicht als Mythos hinzustellen; postrezeptorale Kanäle konnten zweifelsfrei identifiziert werden, die Genetik lieferte falsifizierbare Hinweise (Töchter anormaler Trichromaten – spektraler Shift des Photopigments und ‚x-linked genotypic variants‘ etc.) dies läßt auf neue Einblicke in Farbensehen und Farbwahrnehmung hoffen.

Doch – „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie – und grün des Lebens goldner Baum“ Faust 1 JW Goethe

Abgesehen von Farb-Theorien gibt es nun „evidence based“ ein bemerkenswertes Lob des Grüns: In fact, instead of exacerbating migraine, low-intensity 530nm green light seems capable of decreasing headache intensity and increasing positive emotions (described by migraineurs in the study using words such as happy, relaxing, soothing, and calming). Although the neurobiology of the soothing effects of green light are largely unknown“  Dies steht im Widerspruch zu grell-kurzwellig dominierter Licht-Therapie (cave Photosensitizer !), – Stimulation bzw. Irritation (Vigilanz-‚Ankurbelung‘), Indoor- und Outdoor-Kunstlicht-Modus (Plural, oder -‚Mode‘), sowie grell-blaustichigen KFZ-, DRL-, Fahrrad- etc. Lichtern: „Symptoms include compromised cognitive functions and transient decline in short-term memory“. Siehe: Distraction Blindness sowie Sustained Inattentional Blindness und – vermeidbare fatale Folgen in Strassenverkehr-Szenarios.

 Blau fiel bereits bei Goethe (s. Farbenlehre) in Ungnade und plagt nicht nur auf schwer erträgliche Art und Weise Migräne-Patienten. Das Mode gewordene „Blue-enriched“ gleissende Kunstlicht (‚Cyanophilia‘) darf mit Fug und Recht als unphysiologisch eingestuft werden (blue-peak vieler HI-LEDs) und gälte, abhängig von Intensität und Expositionsdauer, als potentiell phototoxisch.“

Epilog: Ein Farb-Nuancen-Aequilibrium, innerhalb physiologischer Rahmen, behutsam ausgewogen und wohldosiert, angelehnt an natürliche Spektren, wäre wünschenswert – aus sinnesphysiologischen und prophylaktischen Überlegungen (s. Lichthygiene).

Lit.:

G Jordan, J Mollon (2019) Tetrachromacy: the mysterious case of extra-ordinary color vision. Current Opinion in Behavioral Sciences. Volume 30, 130-134

Lledó VE et al (2019) Yellow Filter Effect on Melatonin Secretion in the Eye: Role in IOP Regulation. Curr Eye Res. 14:1-5.

Burstein R et al  (2019) The neurobiology of photophobia. J Neuroophthalmol 39, 94-102

Heilig P (2019) MRGC, eine retinale Schlüssel-Zelle Concept Ophthal 6/2019 23-24

Detwiler PB (2018) Phototransduction in Retinal Ganglion Cells. Yale J Biol Med 91(1):49-52.

Heilig P (2020) Photophobia/Cyanophilia. Concept Ophthalmol 3/2020:38-39

Gender: beyond

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Katharina und Peter Heilig
VIDEO ON DEMAND: KUNSTLICHT IN UNSEREN AUGEN:
https://youtu.be/k9k_wG5lacA

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