Gastautor Prof. Dr. Peter Heilig: MRGC, eine retinale Schlüssel-Zelle

In Concept Ophthalmologie 6/2019:

MRGC, eine retinale Schlüssel-Zelle

Peter Heilig

Geblendetes, „blindes“Mäuschen Illustrationen: PeterHeilig

Intrinsisch photosensitive Melanopsin exprimierende retinale Ganglienzellen haben Schutzfunktionen.

Zapfen und Stäbchen neugeborener,
noch blinderMäuse sind auch
elektrophysiologisch stumm.
Dennoch meiden die Tiere grelles
Licht (light aversion), denn die
MRGC (Melanopsin exprimierenden
retinalen Ganglienzellen)
bzw. ipRGC (intrinsisch photosensitive
Melanopsin exprimierende
retinale Ganglienzellen) sind in
dieser frühen Phase bereits depolarisierend
aktiv und werden
damit einer besonderen Aufgabe
gerecht:demSchutzderNetzhaut
vor Lichtschäden.

In chronobiologischen Studien
haben diese Zellen manch tückischen
Streich gespielt: In klinisch
blinden Vergleichsgruppen fanden
sich Retinae mit intakten
MRGC; dies verwässerte die Resultate
circadianer Studien (circadian
photoentrainment) durch Melatonin-
Suppression (Hannibal et al.
2004), denn die widerstandsfähigen
MRGCs (Cui et al. 2015) können
unter anderem hereditäre
mitochondriale Neuropathien
überleben, z. B. Lebersche Hereditäre
Opticus-Neuropathie LHON),
AD-Opticusatrophie, retinale Dystrophien
(Keeler prophezeite die
Funktionen der MRGCs bereits im
Jahre 1928, Sekaran et al. 2003,
Warren et al. 2006, Li et al. 2008).

Fünf Untergruppen derMRGC waren
bekannt, bis nun eine sechste,
die M6-Zelle, entdeckt wurde
(Quattrochi et al. 2019). MRGCEigenschaften
wurden gelegentlich
vereinfacht dargestellt, jedoch:
„… signal transduction in
ipRGCs ismore complex than originally
thought“, kritisierte Detwiler
(2018, Sonoda et al. 2018) mit
Recht. Ein Beispiel: „Polychromatisches
Licht war wirkungsvoller in
der Unterdrückung nächtlichen
Melatonins als monochromatisches
blaues Licht“ (Revell et al.
2007, Souman et al. 2018). Synaptische
Inputs über die Verdrahtung
mit Stäbchen und Zapfen machen
dieses Phänomen verständlich.

Einige ausgewählte MRGC-Funktionen:
Photoentrainment (nonimage
forming visual functions),
Pupillar-Reflex, grobes Formensehen
(pattern vision), die Fähigkeit
der MRGC-Dendriten, direkt
auf Licht zu reagieren (Berson et
al. 2002), Kontrastsehen (Potackal
et al. 2018). Große Bereiche von
Hell- und auffällig langsamer
Dunkeladaptation: „Dark adaptation
in ipRGCs ismuch slower than
in rods and cones. Even after one
hour, ipRGCs appear to continue
todarkadapt –anexact timepoint
for full dark adaptation is not feasible
with electrophysiological
approaches … the authors estimate
the time course to be at least
several hours“ (Wong et al. 2005).
Die „langsamen elektrophysiologischen
Potentiale“, wie die klinischer
Elektro-Okulogramme (Thaler,
Heilig 1974), stehen offenbar
mit diesen trägen adaptativen
MRGC-Prozessen in Verbindung.

Farbsehen – „changes in light colour,
not intensity, are the primary
determinants of natural circadian
activity“ (Pauers et al. 2012, Stabio
et al. 2018), auch „low level light
detection“, „Raumgeber“ (Spitschan
et al. 2017), Kontrastfunktionen
und Regulierung des Augendrucks:
Gelbfilter (465-480 nm) reduzierten
im Tierexperiment den
Augendruck um erstaunliche 45
Prozent via Melanopsin-Melatonin-
Einfluss auf die Kammerwasser-
Produktion (Lledo et al. 2019).

Degeneration und Verlust von
MRGCs kann circadiane Funktionen
in Form von Schlafstörungen
beeinträchtigen (Ortuno-Lizaran
et al. 2018), z. B. durch Morbus
Parkinson,Diabetesmellitus,Morbus
Alzheimer, Smith-Margenis
Syndrome (Barboni et al. 2018),
weit fortgeschrittenes Glaukom
(Obara et al. 2016). Retinale Lichtschäden
werden passager (?) von
reduzierten Melanopsin-Expressionen
(down regulation) begleitet
(Garcia-Ayuso et al. 2017).

Eine subretinale humane Melanopsin-
Gentherapie (ectopic expression
of melanopsin) in Endstadien
retinaler Dystrophien
und -Degenerationen wird weiterhin
als eine vielversprechende
mögliche Option – „Longterm-
Restauration“ – erforscht (De Silva
et al. 2017, Ameline et al.
2017).

Epilog: Scheinbar Widersprüchliches
erinnert an Teilchen- und
Wellencharakter des Photons; je
nach Untersuchungsmethode
und Interpretation offenbaren
sich verschiedene Facetten der
MRGC-Familie (expression of
mRGSc). Anatomische Asymmetrien
und Dynamik in Krankheitsverläufen,
z. B. „Ab-accumulation
bei Morbus Alzheimer (La
Morgia et al. 2015) oder Experimenten
wie chronische (LP-OHT)
oder akute (A-OHT) okuläre Hypertension
und nach intraorbitalerOpticNerve
Transection (ONT)
oder Crush (ONC ;Vidal Sanz et al.
2017, Sanchez Migallion et al.
2018), Ischämie, Lichtschäden,
vergleichende Forschung (Jeong
et al. 2018), genetisch-selektive
Melanopsin-Deletion (Wang et
al. 2017) etc. eröffnen immer
neue Aspekte samt zukünftigen
therapeutischen und prophylaktischen
Möglichkeiten.

Besonders eindrucksvoll ist die
signifikante Reduktion der
Kammerwasserproduktion
durch Gelbfilter (Lledo et al. 2019) – ein
weiterer Hinweis auf die potienziell
schädigende nicht nur phototoxische
Wirkung kurzwellig
dominierenden Kunstlichts (blue
enriched glaringwhite light).

Literatur:
1. Quattrochi LE et al. (2019) The
M6 cell: A small-field bistratified
photosensitive ganglion cell. J
CompNeurol 1;527 (1): 297-311
2. Lledo VE et al. (2019) Yellow Filter
Effect on Melatonin Secretion
in the Eye: Role in IOP Regulation.
J Current Eye Research 44
(6):614-618

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