Gastautor Prof. Dr. Peter Heilig: Prione und Marcel Proust

Prione und Marcel Proust

„Die Vergangenheit ist niemals vergangen. Solange wir leben, bleiben unsere Erinnerungen wunderbar flüchtig. Und in ihrem unbeständigen Spiegel sehen wir uns selbst.“

                                                                                                                 Marcel Proust

Unerhörtes Glücksgefühl durchströmte mich – ich fühlte, dass diese mächtige Freude mit dem Geschmack des Tees und des Kuchens (eine kleine Madeleine) in Verbindung stand“: zu finden in Prousts  – Auf der Suche nach der verlorenen Zeit  (In Swanns Welt).

Geruch- und Geschmacksinn sind direkt mit dem Hippocampus verbunden; Seh-, Hör-, Tast-  und Temperatur-Empfindungen jedoch werden auf Umwegen, als ein Menü der Sinneseindrücke im Thalamus aufbereitet:

Ein Hauch von Duft kann weit zurückliegende Erinnerungen verblüffend real lebendig werden (moments bienheureux) – und die ‚verlorene Zeit wieder finden lassen‘. 

„Welcher Widersinn darin liegt, wenn man die Bilder der Erinnerung in der Wirklichkeit sucht – und Häuser, Straßen und Avenues sind flüchtig..“ (Schluss-Sätze in Swanns Welt).

Bilder der Erinnerung werden modifiziert. Dendriten und Synapsen ändern sich; Top-down Prozesse beeinflussen visuelle Wahrnehmungen, Seh-Eindrücke werden verändert,  Details ergänzt oder ausgelöscht. Zum Beispiel: Inattentional Blindness als Folge kapazitiv überforderter Kurzzeit-Speicher (Tagfahrlicht-Unfälle). Oder –  die unbemerkte Abschattung durch den normalen Lidschluss, das Ausblenden des – niemals als Störfaktor auffallenden physiologischen blinden Flecks – im Gesichtsfeld, das Einfügen fehlender Strukturen (über den blinden Fleck projizierte Zahlenreihe, welche unbewusst komplettiert wird), etc. 

Noch immer wird nach einem Langzeitgedächtnis-Speichermedium geforscht, nach der Erklärung für dauerhaftes Fortbestehen der Erinnerung trotz ständiger Erneuerungen (Neurogenese) im ZNS. Gehirnproteine (Halbwertszeit ~14 Tage) verändern sich, ein Teil der Neurone des Hippocampus geht zugrunde, andere neuronale Strukturen und Verknüpfungen entstehen neu – und doch überdauern viele Langzeit-Erinnerungen hartnäckig den Fluß der Zeit – elementare Bausteine unseres Identitäts-Konstruktes.

Im Aplysia*-Labor Eric Kandels experimentierten Kausik Si et al. mit einem faszinierenden Molekül: CPEB (cytoplasmic polyadenation element binding protein) aus der Familie der Prione. Es fand sich in den Dendriten und – die Blockade von CPEB löschte die Erinnerung in den Neuronen der Versuchstiere. In den meisten Synapsen, auch im Hippocampus, wurde CPEB nachgewiesen. Prione können spontan ihre proteomische Struktur verändern, sich selbst aus- oder einschalten, Erinnerungen schaffen oder löschen. Serotonin oder Dopamin  schalten CPEB aktiv.

 Prione, atypisch gefaltete Proteine, selbstperpetuierend, erlangten traurige Berühmtheit als Verursacher übertragbarer boviner spongiformer Enzephalopathien, Creutzfeldt-Jakob – , Kuru etc.,  Wenig bekannt ist, dass Prione die Netzhaut vor Lichtschäden schützen und – dass Pflanzen proteinbasierte molekulare Erinnerungen bilden können – und dass Allergie die Neurogenese im Hippocampus verbessert.

Allergie verstärkt Neurogenese und aktiviert verschiedene Vorgänge im Hippocampus. Vielleicht spielte in diesem Zusammenhang das allergische Asthma Marcel Prousts eine Rolle, als seine  besonders intensive Erinnerung an Geruch und Geschmack „unerhörtes Glücksgefühl“ auslöste.

Prione spielen offenbar eine Schlüsselrolle in den Prozessen des Gedächtnisses. Obwohl selbstperpetuierend unterliegen sie Veränderungen – und mit ihnen unsere „untrüglichen“ Erinnerungen. Dazu kommen unvermeidliche Vermischungen des episodischen mit dem kollektiven Gedächtnis, Uminterpretationen, Umwertung, Verklärung, Manipulationen, Suggestionen, Autosuggestionen etc.

dazu abschließend der Stoßseufzer eines Historikers:

„Zeitzeugen sind die größten Feinde unserer Wissenschaft.“

 Lehrner J (2007) Proust was a Neuroscientist. Houghton Mifflin NY

Herz R, Schooler J (2002) Testing the Proustian Hypothesis, Amer J Psychol 115, 21-32

Si K, Kandel E (2003) A neuronal isoform of the Aplysia CPEB has Prion-like properties, Cell 115, 879 – 891

Frigg, R et al (2006) The prion protein is neuroprotective against retinal degeneration in vivo. Exp Eye Res 83(6):1350-8.

Chernova TA etal (2017) Prion based memory of heat stress in yeast. Prion 11(3):151-161.

Klein B et al (2016) Allergy enhances neurogenesis and modulates microglial activation in the hippocampus. Front Cell Neurosc 28; 10:169

Lavis T, Brewer N (2017) Effects of a proven error on evaluations of witness testimony. Law Hum Behav. 41(3):314-323.

Macknik SL, Martinez-Conde S (2010) Sleights of the Mind. What the neuroscience of magic reveals about our everyday deceptions. H Holt NY

*Aplysia: Seehase, Meeres-Schnecke, (griech. aplysia = Schmutz). Übersichtlicher ZNS-Bauplan, besondere Größe vieler Nervenzellen, bevorzugtes Biomodell

Interest: no

Gender: beyond

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